Autorin
Mythos und der 11. September 2001.
Turmsymbolik in visuellen Medien.

Hausarbeit von Jiré Emine Gözen
endgültige Fassung vom 13. November 2002.

Abstract:
In diesem Text geht es um die bekannten Bilder der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Kurz wird vorgestellt, in welcher Form dieses Ereignis im Fernsehen aufgenommen wurde und welche Überlegungen es zu Parallelen in populären Kinofilmen gibt.
Mir ist es jedoch wichtig, darüber hinaus zu schauen, welche älteren Bilder in den Fernsehaufnahmen noch angesprochen werden und wie mit der Symbolik von Türmen bestimmte mythische Subtexte aktualisiert werden. Mit diesen Erkenntnissen läßt sich die 'Inszenierung' der Terroranschläge besser verstehen und erahnen, warum diese Szenen dermaßen viele Menschen auf der ganzen Welt so tief und so emotional berührt haben.


Einleitung
Zum 11. September 2001
    -Aufgriff des Ereignisses in den visuellen Medien
    -Gefangen im Déjà-Vu
    -Zwischenstand
Das Bild als magische Kommunikation
    -Funktionen des Mythos
    -Turm als Mythos
    -Verwendung der Turmsymbolik im Film
Fazit
Literaturliste
Wichtige Bemerkungen!
Einleitung

Nach dem 11. September 2001 gab es eine Vielzahl von verschiedenen Ansätzen, in denen der Versuch gemacht wurde, sich mit den Ereignissen dieses Tages auseinanderzusetzen. Immer wieder rückten bei diesen Betrachtungen die Fernsehaufnahmen der Terroranschläge in New York in den Vordergrund.
Der Vergleich mit Szenen aus dem Kino oder Fernsehen kam schnell auf. Stets gingen diese Betrachtungen mit einem Ausdruck der Verwunderung darüber einher, die Bilder bereits zu kennen, sie bereits gesehen zu haben. Der Journalist Michael Althen schrieb in diesem Zusammenhang:

"Im Grunde sah die Wirklichkeit so schrecklich unprofessionell aus, daß wir nicht an sie glauben mochten. Man hatte das - man verzeihe den Ausdruck - tausendmal besser gesehen." (Althen)

Der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen sprach in diesem Kontext von einem Déjà-Vu, ausgelöst durch die Vielzahl von Katastrophenfilmen, welche das vermeintliche Wiedererkennen der Aufnahmen vom 11. September hervorriefen.
Dieser Art der Betrachtungen ist auch gemeinsam, daß sie von den Emotionen und Gedanken handeln, die durch diese Bilder erzeugt wurden. In dem Versuch, die vielfältigen emotionalen Reaktionen auf das Ereignis zu verbalisieren, ist schnell die Rede von Schaulust, morbider Faszination, unbegreiflichem Entsetzen und so weiter. Es fehlt aber an einem Versuch der Erklärung, warum diese Bilder so stark wirken und aus welchem Grund sie sowohl im Kino als auch in der Realität einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen und immer wieder Faszination ausüben.
Der Ansatz der vorliegenden Arbeit besteht in der Annahme, daß es sich um mehr handelt als manifeste Bedeutungen, die in den Bildern des 11. Septembers angesprochen werden. Unter Berücksichtigung dieser Hypothese möchte ich eine Erklärung suchen für die Emotionen der Angst, Trauer und Betroffenheit, die anscheinend von Bildern der Zerstörung von hohen Gebäuden ausgelöst werden.

Zum 11. September 2001

Am 11. September des Jahres 2001 kollidierte eine Boeing 767 der American Airlines um 8:45 Ortszeit mit dem Nordturm des World Trade Centers in New York und explodierte. Kurz danach wurde allgemein noch davon ausgegangen, daß es sich um einen Unfall handelt.
Nur wenige Minuten nach dem Einschlag, der den Nordturm in Brand gesetzt hatte, rückten die ersten Einheiten der New Yorker Feuerwehr an und richteten im Erdgeschoß des Turmes ihre Einsatzzentrale ein. Als dann eine Viertelstunde später, um 9:03 Uhr Ortszeit, eine weitere Boeing 767 der United Airlines in dem Südturm des Word Trade Centers hineinraste, wurde langsam klar, daß es sich wahrscheinlich um keinen Zufall handelt.
Es wurde begonnen, den Flugverkehr in den Vereinigten Staaten einzustellen. Flugzeuge, die sich noch in der Luft befanden, wurden zum nächsten US-Flughafen oder nach Kanada umgeleitet. In manchen Teilen des Landes wurde der Zugverkehr eingestellt und schließlich wurden alle Grenzen des Landes geschlossen.
Vierzig Minuten nach dem zweiten Einschlag in das World Trade Center stürzte gegen 9:43 Uhr eine Boeing 737 in das Pentagon.
Um 10:05 stürzte der Südturm des World Trade Centers vor laufenden Kameras in sich zusammen. Etwa 20 Minuten später, um 10:28, stürzte auch der Nordturm des World Trade Centers ein. Zum Zeitpunkt des Einsturzes waren beide Türme oberhalb der Einschlagsstockwerke bei weitem noch nicht evakuiert. Im Südturm befanden sich zum Zeitpunkt des Einsturzes noch eine Vielzahl an Rettungskräften, Feuerwehrleuten und Polizisten, die versuchten, dort ihre Arbeit zu verrichten. Auch diese Personen wurden durch den Einsturz unter den Trümmern begraben.
Um 10:29 stürzte schließlich eine Boeing 757 der United Airlines in der Nähe von Pittsburgh über unbewohntem Gebiet ab.
Um 13:27 wurde in Washington und New York der Notstand ausgerufen und US-Präsident Bush erklärte in einer ersten Stellungnahme dem Terrorismus den Krieg.
So weit die Fakten.

Aufgriff des Ereignisses in den visuellen Medien:

Während der erste Einschlag in den Nordturm des World Trade Centers nur in Form von Amateur-Videoaufnahmen festgehalten werden konnte, waren zum Zeitpunkt des Einschlags in den Südturm bereits mehrere Fernsehstationen, vertreten durch Hubschrauber, Moderatoren und Sendebusse am Ort des Geschehens. So geschah es, daß der zweite Einschlag live auf den Bildschirmen übertragen wurde.
Die Nachricht der Ereignisse in New York erreichte Deutschland einige Minuten nach 15 Uhr und wurde direkt an die zu diesem Zeitpunkt laufenden Nachrichtensendungen weitergegeben.

"[...] und soeben erreichen uns folgende Informationen und folgende Bilder. Aus dem World Trade Center in New York steigt dichter Rauch auf. Nach Berichten US-amerikanischer Fernsehsender ist eine zweimotorige Kleinmaschine in einen der beiden Türme des Wolkenkratzers gestürzt. Wir werden uns bemühen, daß wir Ihnen weitere Informationen noch im Lauf dieser Sendung nahe bringen können. Aber zunächst weiter mit der Haushaltsdebatte in Berlin [...]" (ARD Tagesschau vom 11.09.2001 um 15 Uhr, siehe auch Archiv der Beiträge)

Im Laufe der nächsten Stunde wurde nach und nach zusammengetragen, was sich tatsächlich in den USA ereignet hatte. Fast alle deutschen Sender unterbrachen ihr laufendes Programm, um in Sondersendungen über die Geschehnisse in den USA zu berichten.
Zu dieser Zeit waren fast alle wichtigen Internetnachrichtenseiten wegen Überlastung zusammengebrochen. Damit konnte dem Anspruch dieses Mediums, jederzeit in Echtzeit Informationen zu liefern, in diesem Fall nicht nachgekommen werden.
Im Fernsehen kamen zu den bereits vorhandenen Bildern immer mehr Aufnahmen, die von Amateuren mit Videokameras aufgenommen wurden. Viele Sendungen ließen die Bilder der von den Flugzeugen attackierten Türme bis hin zu ihrem Zusammensturz zumindest im Bildhintergrund in einer Endlosschleife laufen. Die Berichterstattung wurde außerdem immer wieder unterbrochen, um die nach Worten ringenden Moderatoren durch die Bilder abzulösen. Immer wieder wurden die Videos von den Einschlägen in das World Trade Center gezeigt, die brennenden Türme, die herabfallende Menschen, der Kollaps der Gebäude, Staubwolken, fliehende Menschen, erschöpfte Helfer, verzweifelte Angehörige, die Ruinen am Ground Zero und Panoramaaufnahmen von Manhattan.
Es war an diesem Tag nicht möglich, an den Bildern vorbeizuschauen. Es war auch unmöglich, diese Bilder nicht in einer anhaltenden Wiederholung zu sehen. Die Endlosschleife wurde zum Zeichen für diese Bilder. Und das wieder und wieder und wieder.

Gefangen im Déjà-Vu:

Den Attentaten des 11. Septembers wurde, schon wenige Stunden nach dem sie sich ereignet hatten, eine globale Bedeutung zugesprochen. Die dem Ereignis zugehörigen Bilder und Inhalte wurden durch Massenmedien verbreitet und kommentiert. Noch Wochen später waren sie der Schwerpunkt verschiedener Zeitungen, Magazine, Fernsehsendungen, Internetseiten usw. Die Bedeutung der Ereignisse wurde in einen massenkulturellen Diskurs aufgenommen, der bis heute nicht abgerissen ist.
Georg Seeßlen erkennt in den Bildern des attackierten World Trade Center eine Analogie zu verschiedenen Actionfilmen. Die Bilder eines Actionfilmes, an den die Ereignisse des 11. Septembers erinnern, haben durch ihren Unterhaltungscharakter zwar einen anderen Kontext. Doch dadurch, daß die bekannten Bilder aus Actionfilmen einem Erzählstrang folgen, wird auf diesen Erzählstrang mit den dazugehörigen Bildern, sozusagen 'im Kopf' auch in der Realität zurückgegriffen:

"Wir kennen die Bilder, die wir vom Geschehen in New York über das Fernsehen erhalten haben. Das gekaperte Flugzeug voller verzweifelter Menschen auf einem 'Flug in den Tod'. Das in Flammen stehende Hochhaus. Die in Schutt und Asche fallende Metropole, die fliehenden Menschen. Wir kennen diese Bilder aus dem Kino so gut, dass ihre Wiederkehr in der Wirklichkeit wie ein Phantasma zweiten Grades wirkt. Wir haben das alles schon, einzeln und als Kollektiv, geträumt. Das heißt: Wir haben es auf eine besondere Art 'gewusst'." (Seeßlen: "Das furchtbare Bild")

Seeßlen beschreibt hier, daß in den Köpfen der Menschen durch die manifesten Bildinhalte des Ereignisses eine ganze Reihe von weiteren Bilder ausgelöst wurden. Diese Bilder sind vorbewußt vorhanden, sie wurden in diesem Zusammenhang nicht tatsächlich gezeigt. Es gibt keine Aufnahmen von den letzten Minuten der Passagieren der entführten Flugzeuge. Es gibt keine Bilder, die in einer Parallelmontage das Bild des Flugzeuges aus dem Blickwinkel der Personen zeigt, auf die es zurast. Aber an genau solche Szene wird bei dem Betrachten der Bilder des realen Ereignisses gedacht. Diese Bilder lösen Entsetzten, Angst und Mitgefühl aus.
Das vermeintliche Wiedererkennen der Bilder bezeichnet Seeßlen als Déjà-Vu. Denn obwohl geglaubt wird, die Bilder schon vorher gekannt zu haben, war das Ereignis und damit die dazugehörigen realen Bilder noch nicht vorhanden.
Dieses Déjà-Vu wird Seeßlen zufolge ausgelöst durch die Rezeption vergleichbarer Bilder im Kino.

"Merkwürdigerweise allerdings kommen die Bilder dieses so radikal neuen Ereignisses in Form eines bizarren Déjà-Vu über uns. Eine Katastrophe die schon längst in unserer Bildwelt spukte, im Kino sowieso." (Seeßlen: "Die visuelle Kriegserklärung")

Als problematisch stuft Seeßlen die endlose Wiederholung der Bilder des realen Ereignisses im Fernsehen ein. Sie scheinen in seine Augen dadurch an Wirklichkeit zu verlieren. Durch diesen Verlust an Bezug zur Realität, den Seeßlen als Entwirklichung bezeichnet, werden die Bilder tatsächlich wieder zu Kino.

Zwischenstand:

Unabhängig von den tatsächlichen Ereignissen wird in diesem Fall durch die Bilder etwas in den Menschen ausgelöst. Es geht meiner Ansicht nach aber um mehr als Mitgefühl und Entsetzen über die Katastrophe. Die Fernsehbilder müssen in diesem Fall mehr als nur eine Dokumentation der Realität sein. Die Bilder lösen aber auch mehr aus als eine Erinnerung an den letzen Kinobesuch. Die Wirkung der Bilder verursacht tiefe Gefühle der Angst vor Chaos und Zerstörung einer Weltordnung. Bilder sind in diesem Fall mehr als nur Abbilder.

Das Bild als magische Kommunikation

"Wir richten unser Handeln und unsere Reflexionen nach Orientierungen, die uns über Zeichen, Symbole und Bilder vermittelt werden. Die von uns konstruierten Zeichen-, Symbol- und Verweisungssysteme repräsentieren die Strukturen unserer Sinnorientierung. Aus den Strukturen unserer Wahrnehmung und Zeichenverwendung werden Hypothesen über die Strukturiertheit der Welt konstruiert." (Röll S.69)

Bilder werden als "als magische Kommunikation" (Röll S.78) gebraucht. Diese Art des Bildgebrauchs ist dem mythischen Denken zuzuordnen. Bildern wird ein Eigenwesen zugeschrieben, welches mit mythischen Inhalten besetzt wird. Das im Bild Abgebildete wird zu einem eigenen, einem mythischen Wesen stilisiert. Aus diesem Denken heraus werden Fahnen von feindlichen Nationen verbrannt oder Bilder von Herrscherfiguren zerstört. In dieser Handlung kommt zu Ausdruck, daß dem Bild ein Wesen zugesprochen wird. In der Zerstörung des Bildes liegt dann der Versuch, das Wesen des im Bild Dargestellten zu vernichten.
Diese Belebung des Bildes wird als Reanimismus bezeichnet. Dem Medienwissenschaftler Vilém Flusser zufolge heißt dies, daß Bilder die Welt nicht mehr deuten, sondern sie wieder be-deuten. Es geht hier also um eine Aufladung der Bildbedeutung, Bilder erhalten einen Subtext. Diese Ebene des Subtextes richtet sich nicht an das rationale Bewußtsein. Dennoch steuert der Subtext die Rezeption eines Bildes. Der Medienpädagoge Franz Josef Röll geht davon aus, daß die in den Bildern enthaltenen Botschaften/Subtexte zur Wahrnehmungscodierung und schließlich zu 'Beseelung' des Bildes führen.
Bilder bestehen aus Symbolen, die sich aus einem archetypischen und in der Regel je nach Kultur eigenständigen Zeichenvorrat zusammensetzen.

"Aufgrund der Beobachtung aktueller Medienwelt läßt sich die Vermutung äußern, daß symbolische Bildwelten Einfluß auf das Erleben, Handeln und die jeweilige Weltanschauung von Menschen ausüben können. Phänomenologisch läßt sich nachweisen, daß in den heute produzierten Medienprodukten, besonders ausgeprägt im Videoclip, in der Werbung, Computerspielen und im Spielfilm, bewußt oder unbewußt symbolisch 'angereicherte' Bildmotive Verwendung finden." (Röll S.83)

Wenn Bildmotive als symbolisch angereichert betrachtet werden, ist die Ausgangsthese des Strukturalismus, Bilder als Texte zu lesen, hilfreich. Texte, die verschiedene Bedeutungen zulassen, bezeichnet der Semiotiker Umberto Eco als offene Texte. Sie erlauben es, auf verschiedene Arten decodiert zu werden. Fiktionale Werke wie Filme, Romane etc. sind immer offene Texte (im Unterschied zu geschlossenen pragmatischen Texten wie Gebrauchsanleitungen). Diese können aus künstlerischen, philosophischen, kulturwissenschaftlichen, psychoanalytischen, u.v.a. Gesichtspunkten betrachtet werden und damit eine Vielzahl von Interpretationen zulassen, die auch widersprüchlich sein können.

Funktionen des Mythos:

"Betrachtet man das symbolische Denken aus der Sicht kollektiver Deutungsmuster, bedarf es der Hinzuziehung des Mythos. Der Mythos läßt sich als ein vorwissenschaftlich-vorphilosophisches System der Welterklärung bezeichnen. Mythen sind Geschichten, die Ausdruck geben von unserer Suche nach Wahrheit, Sinn und Bedeutung. Es handelt sich um narrative Formen, in denen Deutungen von gesellschaftlichen Ritualen gegeben werden." (Röll S.84)

Mythen liefern ein geschlossenes System, in dem die Welt erklärt wird und somit jede Hinterfragung überflüssig wird. Der Mythos schafft Weltvertrauen durch Vermittlung von fundamentalen Wahrheiten.
In der Mythenforschung wird davon ausgegangen, daß in Bildern enthaltene mythische Subtexte nicht nur verstanden werden, sondern daß auch der Erfolg von fiktionalen Werken durch Nutzung von Mythen und symbolischen Bildwelten erklärbar wird.
Gerade im Spielfilm werden Mythen immer wieder zitiert und bearbeitet. Eines der populärsten Beispiele ist die Filmtrilogie "Star Wars" (George Lucas, dt. Titel "Krieg der Sterne", 1977, 1980, 1983), die nach dem Model des Monomythos von Joseph Campbell konstruiert ist. Hier wird die archetypische Reise des Helden mit ihren verschiedenen Stationen erzählt (Davor, Alltagswelt/Stabilität, die Störung des Gleichgewichtes, die Berufung des Helden, der Widerstand des Helden, der Alte Weise, die Entscheidung für die Aktivität, der Widerstand des Antihelden, der Kampf auf Leben und Tod, das Ziel, der Endkampf, die Wiederherstellung des Gleichgewichtes).

"Mythologische Elemente werden im kommerziellen Film der Gegenwart bewußt eingesetzt, weil die Erfahrung den Produzenten dieser Filme gezeigt hat, daß dann und nur dann hohe Sichtungsquoten und vor allem viele Mehrfachsichtungen und Videovermarktungschancen bestehen, wenn die Struktur der Handlung (Strukturebene) und die Handlung selbst (Handlungsebene) dem Rhythmus des Monomythos folgt. [...] Diese 'mythologische Rhythmik' in der Strukturebene ist eine Bedingung für den kommerziellen Erfolg eines Filmes; soweit verantwortbar, wird von den Produzenten auch auf der Handlungsebene mit mythologischen Elementen - Mythologemen - oder sogar gesamten mythologischen Grundlinien gearbeitet." (Wessely S.93)

Darüber hinaus werden Mythen überall dort verwendet, wo es darum geht, Öffentlichkeit anzusprechen und bestimmte Sichtweisen zu etablieren.
Nach dem Philosoph Roland Barthes ist der Mythos ein Mitteilungssystem "eine Weise des Bedeutens, eine Form" (Röll S.110), alles kann Mythos werden. Es ist von sekundärer Bedeutung, wie der Mythos vermittelt wird. Das Objekt definiert den Mythos nicht, sondern bietet lediglich die Fläche für den mythisch aufgeladenen Inhalt.

"Vermittler mythischer Aussagen kann jede verbale oder visuelle Darstellungsform sein, wie z.B. der geschriebene Diskurs, der Sport, das Gemälde, das Plakat, der Ritus, die Fotografie, der Film und die Werbung." (Röll S.111)

Demzufolge findet eine andauernde Konfrontation mit Bildern und Texten statt, die mit mythischen Bedeutungen aufgeladen sind.

Turm als Mythos:

Das Wissen, daß Bildern mit mythischen Subtexten besetzt sind, kann hilfreich sein, um verständlich zu machen, aus welchem Grund die Bilder des 11. Septembers so starke Reaktionen auslösen. Die Bilder dieses Tages sind meines Erachtens auf einer tieferen Ebene mit mythisch aufgeladenen Subtexten besetzt. Ganz zentrale Bedeutung nehmen in diesem Zusammenhang die Bilder der mit dem World Trade Center kollidierenden Flugzeuge, die brennenden Zwillingstürme und die zusammenstürzenden Hochhäuser ein. Nachgeordnet (und trotzdem relevant) erscheinen mir die Aufnahmen der aus dem Gebäude springenden Menschen und der gewaltigen Zerstörung am Boden nach dem Zusammensturz der Bauwerke.
Die Bilder der Zerstörungsszene des World Trade Centers bilden eine Ereigniskette, die durchaus einen kausalen Zusammenhang hat. Trotzdem erscheint es immer wieder so, als ob von einem Bild und nicht von einer Szene die Rede wäre. Es scheint, als ob eine Bildfolge, in der eine so starke Verdichtung von Macht und Ohnmacht, von Gewalt, Herrschaft, Stärke und Bewegung enthalten ist, einfach eingefroren wurde. In dieser Konservierung verliert die Szene Zeit und Raum und wird somit zu einem Standbild. In diesem Bild findet keine Bewegung mehr statt, es wird zu einer in sich geschlossene Szene, die erstarrt. Das Paradoxe ist, daß diese Szene gerade durch die ewige Wiederholung der Bilder zu eben diesem Standbild wurde.
Eine Konservierung von Ereignissen, Bildern, Gedanken, Erlebnissen durch Wiederholung geschieht nach der psychoanalytischen Theorie auch in einer zwangsneurotischen Abwehr. Die Funktionsweise dieser Abwehr ist es, angsteinflößende Objekte, Gedanken oder Wünsche durch eine wiederholte Tat in ein Ritual einzubinden. Durch diese Einbindung wird das angsteinflößende Objekt vermeintlich unter Kontrolle gebracht. So muß das Objekt zwar nicht mehr mit Angst besetzt werden, doch es darf nur noch in diesem einen, ritualisierten, starren Zustand existieren. Diese Erstarrung durch Wiederholung und Einbindung in ein Ritual ist auch mit der Zerstörungsszene des World Trade Centers geschehen. Durch die Wiederholung wurde aus der bewegten Szene ein Standbild, in dem die latenten Inhalte zwar weiter existieren, in gewisser Form jedoch von Zeit und Raum und damit von der Realität abgesondert werden. Ein Erstarren der Bilder in diesem Sinne bedeutet auch, daß keine wirkliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen möglich ist.
Die Aufnahmen der beiden in die Gebäude fliegenden Flugzeuge, der Explosionen und brennenden Türme, die schließlich einstürzen und eine Trümmerlandschaft hinterlassen, werden zu einem Bild. Diese gezeigte Ereigniskette ist der 11. September.
Ausgehend von der Begrifflichkeit Seeßlens eines Déjà-Vus möchte ich anhand verschiedener Beispiele darstellen, daß sich dieses Déjà-Vu nicht nur auf Bilder, die aus dem Kino bekannt sind, zurückführen läßt.
Die Entschlüsselung unbewußter Symboliken findet ihren Anfang nicht erst in der psychoanalytischen Traumdeutung, sondern ist Jahrtausende alt. Einen Ansatz bieten beispielsweise die Tarotkarten. Diese beschäftigen sich stark mit religiöser Symbolik und sind noch bis heute gebräuchlich.
Von Interesse ist in Bezug auf das World Trade Center und den Begriff Mythos vor allem die Karte "Der Turm":

"The image of the Tower in the Tarot Major Arcana is one of the scariest in the deck, even more so than its closest competitors - Death and The Devil. It speaks of catastrophic and sudden change, often through a totally unexpected and massively destructive mechanism, resulting in a fall from a great height. On September 11th, we watched the Tower play out on our television screens, with all the elements of surprise, disbelief and ultimate horror brought together in one cataclysmic moment. A symbol of confident world commerce, the World Trade Center, was turned into twisted rubble in the space of an hour. The terrifying image of this ancient card has come to life, live and in color." (Johnson)

Tarotkarten tauchten in Europa um das 14. Jahrhundert auf und gehen auf einen orientalischen Ursprung zurück. Die Karte "Der Turm" wurde nur dem europäischen Tarot beigefügt und ersetzte die Karte des Feuers bzw. des Höllentors. Der Psychoanalytiker C. G. Jung bezeichnete die auf den Bilder dargestellten Inhalte und Themen der Tarotkarten als Urbilder bzw. Archetypen der menschlichen Seele.
Die Turmkarte zeigt in den meisten Tarotsets das Bild eines sehr hohen Turmes. Dieser Turm steht in Flammen. In einigen Tarotvarianten wird der Turm von einem Blitz aus dem Himmel getroffen. Der brennende Turm ist auf dem Bild stark beschädigt, in einigen Fällen ist er in der Mitte zerbrochen und gerade am Einstürzen. Zwei Personen fallen kopfüber aus den Fenstern des Turmes. Auf den Gesichtern der herabstürzenden Personen spiegeln sich Furcht, Unverständnis und Verwunderung.
Diese Abbildung zeigt keinen Schnappschuß, sondern zeitlich aufeinanderfolgende Bilder, die zu einem Bild verdichtet wurden. So ist dies die komprimierte Darstellung einer Ereigniskette, die natürlich auch als solche gelesen wurde.
Die Turmkarte wird Aussagen zufolge von den Nutzern des Tarots als eine der erschreckendsten und beängstigsten Karten eingestuft. Im Gegensatz zu den anderen, sehr farbenfrohen Karten dominiert hier die Farbe Schwarz das Bild. Diese Eigenschaft teilt die Turmkarte mit den Karten "Der Tod" und "Der Teufel".
Die Turmkarte steht zunächst für Zerstörung. Diese Zerstörung bedeutet im weiteren Sinne den Zusammenbruch einer Weltordnung, einen Sturz in die Tiefe, ein plötzliches Ereignis, einen Fall aus großer Höhe, Trennung, Verlust alter Werte. Paradigmenwechsel und Offenbarung sind weitere mögliche Interpretation des Bildes. Der abgebildete Turm kann außerdem als das Haus Gottes gesehen werden.
Die symbolische Bedeutung des Bildes eines einstürzenden Turms wurde also schon lange vor den Bildern des World Trade Centers als wichtiges Symbol erkannt und entsprechend benutzt. Einen möglichen Ursprung dieses Symbols findet sich in der Bibel, genauer in der Geschichte des Turmes zu Babel.

"Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laß uns Ziegel streichen und brennen! und nahmen Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der Herr von dort alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der Herr daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder." (Luther-Bibel: Mose 1 Kapitel 11, Vers 1-9)

Der Turm von Babel symbolisiert den grenzüberschreitenden Wunsch des Menschen, bis in den Himmel zu reichen und damit in göttliche Sphären einzudringen. Die Geschichte erzählt von der menschlichen Maßlosigkeit und Überheblichkeit, für welche die Menschen später die Strafe Gottes ereilte. Die bis dato herrschende Ordnung wurde 'von oben' zerstört. Es folgten Chaos und Tod. Eine Großmacht und eine Weltordnung wurden zerstört.
Doch nicht nur das Alte Testament erwähnt überaus häufig Babel als Paradebeispiel für menschliche Überheblichkeit und den Gottes Zorn, auch im Neuen Testament wird ein zukünftiges "Babylon" als Greuel auf Erden bezeichnet, welches den besonderen Zorn Gottes hervorruft. In der Offenbarung des Johannes (im katholischen Sprachgebrauch "Die Apokalypse"), einem bis heute prägenden und kulturgeschichtlich überaus wirksamen Text, steht Babylon für die Hauptstadt eines moralisch korrumpierten Weltreichs, welches die 'gerechte' (und überaus blutige) Strafe Gottes erfährt. Dieses 'Bild' ist Hintergrund für viele apokalyptische Vision und geht oft einher mit der Zerstörung des Turms zu Babel, wenngleich dies auch zunächst zwei unterschiedliche Bibelstellen sind, steht dahinter doch dieselbe 'Moral von der Geschichte'.

Verwendung der Turmsymbolik im Film:

Türme (und Hochhäuser) symbolisieren folglich von je her einen Herrschaftsanspruch und sind Sinnbild einer etablierten Weltordnung. Ihre Zerstörung weist demnach über den manifesten Schaden hinaus und trifft auch das Wesen von dem, was sie symbolisieren. Folglich wäre es zu überprüfen, ob und wie solche Metaphern in Gesellschaften aufkommen, die eine tatsächliche Zerstörung ihrer traditionellen Ordnung erfahren haben. Als älteres Beispiel könnten die Filme der Weimarer Republik am Beispiel von "Metropolis" (Fritz Lang, 1927) dienen.
Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und der bis dahin herrschenden gesellschaftlichen Ordnung resultierten in einem Gefühl der Orientierungslosigkeit, der Unsicherheit und der Wurzellosigkeit. Diese Mentalität kommt in den bekannten deutschen Filmen aus jener Zeit besonders auf der Ebene der Filmarchitektur zum Ausdruck. In Fritz Langs "Metropolis" finden sich starke Referenzen zum Turmbau von Babel, auch hier symbolisiert das zentrale Hochhaus, der Neue Turm von Babel, die Überheblichkeit und die starre soziale Ordnung einer fiktiven technokratischen Gesellschaft. Der Logik der Narration folgend, nach der die in dem Film bestehende starre Ordnung aufrecht erhalten bleibt, wird auch der Turm nicht zerstört. Er symbolisiert hier die Suche nach Halt und stellt gewissermaßen einen 'Pfeiler der Gesellschaft' dar, der eben nicht zerstört werden darf.
Eine andere Verarbeitung gesellschaftlicher Umwälzungen und eines politischen Neuanfangs finden sich in den klassischen japanischen Monsterfilmen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die militärische Niederlage und die Ablösung der jahrhundertealten feudalen Gesellschaft prägten hier eine Geisteshaltung der Unsicherheit und der Verwirrung. Besondere Bedeutung kam dem Schock durch den Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki zu, dessen Prägung in Filmen wie "Gojira" (Ishirô Honda, dt. Titel "Godzilla", 1954) nachzuspüren ist. In diesem Film taucht eine durch Atombombenversuche geweckte Riesenechse auf, die sich daranmacht, Tokio in Schutt und Asche zu legen. Besonderes Augenmerk scheint die Echse hierbei auf die Zerstörung von Hochhäusern zu legen, deren Funktion zwar keine Rolle spielt, dennoch auf der symbolischen Ebene die Überlegenheit einer höheren Gewalt und das Chaos verdeutlicht.
Bemerkenswert ist außerdem noch, daß das "Metropolis"-Thema für ein japanisches Publikum so faszinierend war, daß ein gleichnamiger dreibändiger Manga-Comic von Osamu Tezuka 1949 erschien. 2001 von Tarô Rin verfilmt, bedeutet auch hier eine apokalytische Zerstörung des gigantischen Herrschaftsgebäude das Ende der bisherigen Weltordnung und einen symbolischen Neubeginn.
Eine Reihe von heutigen Action- und Katastrophenfilmen greift eben diese Symbolik auf. Allerdings sind die neueren Filmen nicht Zeugnis einer tatsächlichen gesellschaftlichen Umwälzung und Neuordnung. Die Filme sind vielmehr (auch visuelle) Spekulationen, wie eine solche Zerrüttung der Weltordnung aussehen könnte und wie sie sich filmisch am besten inszenieren ließe. In Filmen wie "Independence Day" (Roland Emmerich, 1996), "Armageddon" (Michael Bay, 1998), "Deep Impact" (Mimi Leder, 1998) oder "Fight Club" (David Fincher, 1999) geht die Zerstörung von Hochhäusern mit dem Verlust der bestehenden Weltordnung und Chaos einher. In Emmerichs "Independence Day" werden die hohen Gebäude von angreifenden Außerirdischen mit Vernichtungsstrahlen zerstört, die von den im Himmel schwebenden Raumschiffen abgeschossen werden. Den zerstörten Gebäuden kommt dabei keine wichtige Funktion zu. Sie haben keine strategische Relevanz, sie beherbergen keine Kommandozentralen oder vergleichbares, sie sind einfach nur hoch und erfüllen damit ihren symbolischen Zweck.
In Finchers "Fight Club" werden die Hochhäuser einer fiktiven amerikanischen Stadt von einer Art terroristischen/anarchistischen Gruppe durch Sprengung zerstört. Betroffen sind hauptsächlich die Hochhäuser, in denen die Zentralen der weltweiten ausgedehnten Bank- und Kreditunternehmen ansässig sind. Das Ziel dieses Aktes ist, durch die Vernichtung der Daten von Geldwerten, Vermögen und Krediten die Menschheit in Chaos zu stürzen. Diesem Chaos muß zwangsläufig ein Neubeginn folgen. Auch in den Meteoritendramen "Deep Impact" und "Armageddon" sind die Bilder der durch Himmelskörper zerstörten Hochhäuser die eindrucksvollsten Aufnahmen.

Fazit

Aus den exemplarisch angeführten Theorien und Beispielen des vorangegangenen Kapitels wird deutlich, daß mythisches Material in verschiedenen Medien aufgearbeitet wird. Mit der Verwendung mythisch-mythologischer Themen und Erzählmuster bekommen aktuelle mediale Texte Ebenen der Mehrdeutigkeit, die sie aus der Sphäre der reinen Unterhaltung herausheben.
Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 zeigen sich in ihrer tatsächlichen Realität als besonders und einmalig. Zum Einen ist es der symbolträchtige Ort, der angegriffen wurde. Zum Anderen ist es die Art, wie dieser Angriff inszeniert wurde.
Die 110 Stockwerke hohen Zwillingstürme des Welthandelszentrums waren bereits zu 'Lebzeiten' durch ihre architektonische Einmaligkeit in Größe, Form und Gestaltung eine Art Kathedrale, die zu Ehren des amerikanischen Kapitalismus, der Wirtschaftskraft des Landes und seiner überlegenen Position stilisiert wurde. Erbaut wurde diese Kathedrale konsequenterweise in einer Stadt, die für das wirtschaftlich aufstrebende als auch für das kulturell innovative Amerika steht. New York als Zentrum der Finanzen, der Presse und der Kunst. In dieser Kombination, natürlich auch historisch bedingt, ein Zentrum einer gewissen Elite und in dieser Elite auch eine Stadt der Juden.
Zum tatsächlichen Zerstören dieses stilisierten Wahrzeichen wurde eine Methode angewandt, die dem Symbol an sich gerecht werden sollte. Es wurde nicht durch eine Sprengung oder ein Niederreißen zerstört, wie es dem gewollten und damit geplanten Abriß eines Gebäudes zu eigen wäre, sondern das World Trade Center wurde von oben 'enthauptet'. Die Rolle der Guillotine nahmen an dieser Stelle zwei ihrem Zweck entfremdete Passagiermaschinen ein, die zudem in ihrem Wesen als Flugzeuge ein Symbol des Fortschritts sind und bestimmte Menschheitsträume in sich tragen.
Es handelt sich um mehr, als das Kollidieren zweier greifbarer Gegenstände. Es sind zwei Konzepte, die hier aufeinandertreffen. In dem Zusammenstoß des Flugzeugs mit dem Turm kollidieren nicht nur zwei physische Objekte miteinander, sondern auch zwei realisierte Menschheitsträume.
Der Turm gilt als Zeichen der Herrschaft und Erhabenheit, der für eine Verbindung zwischen dem Göttlichen und Irdischen steht. Dabei verkörpert der Turm zusätzlich für ein sehr starres und unbeweglich hierarchisch geordnetes System. Wie gezeigt manifestieren sich Macht und Herrschaft in der Stilisierung des Turms zu einem für diese Werte stehenden Symbol.
Das Flugzeug bildet im Gegensatz dazu ein eigenes, dem des Turmes zum Teil entgegenlaufendes Konzept. Das Flugzeug steht genauso wie der Turm für eine Versinnbildlichung der Verbindung zwischen Irdischem und Göttlichem. Doch im Gegensatz zum Turm ist das Flugzeug nicht Bestandteil eines hierarchisches System, sondern es steht für Flexibilität und einen ständigen Wechsel der Orte und Möglichkeiten - geradezu demokratisch konnotiert. In dieser Mobilität innerhalb der Luft steht das Flugzeug für einen transistorischen Ort, der Offenheit und Allmacht verkörpert.
Das Zusammentreffen dieser beiden Pole endet zunächst in der Vernichtung beider Konzepte, da sie zusammen nicht funktionieren können, weil sie zu gegensätzlich sind. Doch zeigt sich klar, wo das Element der Macht und der Überlegenheit wirklich liegt. Nicht die unbeweglichen Hochhäuser zeigen ihre Überlegenheit, sondern die beweglichen Flugzeuge zerstören die starren Gebäude.
Ein weitere interessanter Aspekt ist, daß sich die Interpretation der Angriffe auf das World Trade Center auf mehreren Ebenen bewegt. Zum einen ist da die sofort herausgedeutete Ebene des terroristischen Anschlags. Damit gemeint ist das Ausüben und Verbreiten von Terror. Terror durch den unberechenbaren Angriff auf unschuldige und sich zufällig vor Ort befindende Menschen. Diese Unvorhersehbarkeit löst den Terror 'im Kopf' aus, immer und überall getroffen werden zu können nicht mehr sicher zu sein.
Zu dem Terror kommt der hohe materielle Schaden, der durch die Zerstörung der mächtigen Gebäude entstand (verlorene Vermögenswerte in Daten, Büros, Arbeitskräfte und Arbeitszeit). Darüber hinaus bewegen sich die Angriffe des 11. Septembers gerade auch auf einer Symbol- und Mythenebene. Es geht um die Vernichtung eines Symbols, in dem sich Identität, Macht und Geschichte verdichten. Und diese Vernichtung findet in einer Inszenierung statt, die sich an gängigen Mythen der abendländischen Kultur orientiert. In dieser Inszenierung erst, die sich selbst auch als solche versteht, können so bedeutungsstarke Bilder entstehen, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden.
In meinen Augen ist eben diese in den Bildern enthaltene Symbolik dafür verantwortlich, daß die Bilder so stark wirken. Aus diesem Grund sind gerade diese Bilder und keine anderen zum Sinnbild des vermeintlich weltverändernden Ereignisses geworden. Die Analogie zu biblischen und mythologischen Bildern zeigt auch, daß in Bildern Potentiale enthalten sind, die direkte Wirkungen auslösen können. Das bedeutet, daß Bilder Orientierung in der Welt bieten. Von dieser Annahme ausgehend möchte ich behaupten, daß nur durch das Ansprechen dieser global bekannten, mythisch aufgeladenen Bilder, der 11. September erst zu dem Weltereignis werden konnte, welches er schließlich geworden ist. Denn erst mit diesem Verständnis der Bilder kann die Angst erklärt werden, und daß dieses Ereignis, analog zu der Bildbedeutung, für ein gewaltiges Chaos steht, welches die Weltordnung auf den Kopf stellen würde. Hätten die mythischen Bilder keine Wiederkehr in den bekannten Fernsehaufnahmen gehabt, hätte das Ereignis nicht die weltweiten Emotionen ausgelöst, wie es in diesem Fall geschehen ist.
Es wurden apokalyptische Bilder angesprochen. Diese apokalyptischen Bilder üben, wie bereits von Althen und Seeßlen beschrieben, geradezu einen morbiden Reiz aus. Das ist auch ein Grund dafür, daß diese Bilder im Kino so erfolgreich sind. Die Bilder enthalten eine morbide Schönheit, die mit dem Versprechen aufwartet, daß nach diesen Bildern eine ganz andere, völlig neue Welt bereitstehen wird.

"So viel ein Jahr nach der Auslöschung der Türme geschrieben worden ist: Das Rätsel ist weiterhin ungelöst. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum bereits der erste Jahrestag des 11. September 2001 als Bildersturm immer neu einschlagender Flugmaschinen wiederkehrt. Aufklärung und Verklärung stehen vor solcher Explosionskraft noch immer ununterscheidbar nebeneinander. Die Gewissheit, dass seither alles anders ist, geht einher mit der Unfähigkeit, benennen zu können, was eigentlich anders ist." (Nutt)

In dem apokalyptischen Mythos liegt der Gedanke einer Reinigung, nach der alles neu beginnt, alles anders wird. Im Kino mag das reizvoll sein, in der Realität löst dieser Gedanke jedoch auch Angst und Verunsicherung aus. Diese Verunsicherung bleibt, solange die Bilder in ihrem konservierten Zustand bestehen bleiben und keine wirkliche Auseinandersetzung mit ihnen stattfindet. Denn erst durch die Auseinandersetzung mit den Bildern können diese wieder Raum und Zeit gewinnen und dem Betrachter als Zeugnis von Geschichte, nicht eines apokalyptischen Mythos, verständlich werden.

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Tarotkarte
Archetypische Turmsymbolik
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"Godzilla" (1998)
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"Armageddon" (1998)
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"Fight Club" (1999)
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"Independence Day" (1996)
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der JWG Universität Frankfurt
Journalistische Linksammlung zu den Terroranschlägen, zur Berichterstattung und zu Hintergründen (englisch)
Medienwissenschaftlicher Aufsatz zum 11. September: Die weiße Magie des Kinos und die schwarze Magie des Terrorismus
Bildsprache und Inszenierung von Terroranschlägen am Beispiel einer Filmanalyse von "Ausnahmezustand"
Bildtheoretische Reflexionen zu Fotografien vom Ground Zero
Wie das Kino die Wahrnehmung von Terror organisiert
Urbane Legenden um den 11. September (englisch)
Internet Archive Special zum 11. September 2001 (englisch)
Apokalyptische Narrative im Zeitalter der Television
Postmoderne Intertextualität am Beispiel des 11. Septembers und populären Kinofilmen (englisch)
Arbeit zu Niklas Luhmanns Realität der Massenmedien [PDF], weitere Texte zu Modernisierungstheorien und 11. September hier
Interpretation des Films "Ausnahmezustand" in Bezug auf die Ereignisse des 11. Septembers (englisch)
Fiktion und Realität: Der 11. September als Teil Hollywoods, vollständige Ausarbeitung hier im .DOC Format
Literaturliste

Bücher:
CAMPBELL, Joseph: "Der Heros in tausend Gestalten"; Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1949)
ECO, Umberto: "Das offene Kunstwerk"; Frankfurt am Main 1973 (zuerst 1962)
FLUSSER, Vilém: "Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung"; Frankfurt am Main 1994
JUNG, Carl Gustav; JUNG-MERKER, Lily (Hrsg.); RÜF, Elisabeth (Hrsg.): "Gesammelte Werke, 20 Bde. in 24 Tl.-Bdn., Bd.9/1, Die Archetypen und das kollektive Unbewußte"; Olten 1976
LUTHER, Martin: "Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes"; Ausgabe von 1912
RÖLL, Franz Josef: "Mythen und Symbole in populären Medien. Der wahrnehmungsorientierte Ansatz in der Medienpädagogik"; Frankfurt am Main 1998
WESSELY, Christian: "Von Star Wars, Ultima und Doom. Mythologisch verschleierte Gewaltmechanismen im kommerziellen Film und in Computerrollenspielen"; Frankfurt am Main 1997

Artikel:
ALTHEN, Michael: "Der Schrecken der Medusa" In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2002
BAUDRILLARD, Jean: "Der Geist des Terrorismus"; In: Süddeutsche Zeitung, 12.11.2001
NUTT, Harry: "Kein Dialog. Was die WTC-Türme sagen"; In: Frankfurter Rundschau, 11.09.2002
SEESSLEN, Georg: "Das furchtbare Bild" In: Die Zeit Nr. 66, September 2001
SEESSLEN, Georg: "Die visuelle Kriegserklärung" [PDF Datei] In: Die Tageszeitung, 13.09.2001
THOMPSON, John B.: "Bilder als Komplizen. Im Kampf der Symbole haben Amateurvideos und Endlosschleifen den Terror sichtbar gemacht" In: Die Zeit Nr. 39, September 2001
ZIZEK, Slavoj: "Willkommen in der Wüste des Realen" In: Die Zeit Nr. 39, September 2001

Internetseiten:
ARD: "Tagesschau Sendungsarchiv Dienstag, 11.09.2001"; http://www.tagesschau.de/sendungen/archiv/0,1198,9-11-2001,00.html [ursprüngliche URL]
BORNEMANN, Dietmar: "Der 11. September 2001 Anschlag auf das World Trade Center"; http://wtc-anschlag.de/
DORNIS, Martin; GIESSLER, Hannes; ZIEGER, Andreas: "Stahlgewitter. Reflexion der Angriffe auf Amerika"; http://www.trend.infopartisan.net/trd1001/t271001.html [ursprüngliche URL]
GIESEN, Rolf: "Metropolis"; http://www.epilog.de/film/Mc_Mh/Metropolis_D_1927.htm
JOHNSON, Lorie A.: "The Tower: Some Thoughts from a Metaphysical Point of View"; http://www.sunfell.com/tower.htm
LERNER, Eric K.: "THE TOWER: Thoughts on September 11, A King's Downfall And Redemption"; http://www.voiceofthoth.com/divine7.htm
LITTLE, Tom Tadfor: "The History of the Tower (Fire) Card"; http://www.tarothermit.com/tower.htm
MILLS, Barry: "Mythos and Terrorism: A Response to the Events of September 11"; http://www.cgjungpage.org/content/view/226/ [ursprüngliche URL]
PALM, Goedart: "Nine/Eleven. Zum Weltschicksalstag des 11.09.2001"; http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/13224/1.html
ROBNIK, Drehli: "Remember Pearl Harbor! America Under Attack - ein Blockbuster als medienkulturelles Gedächtnis"; http://nachdemfilm.de/no1/rob02dts.html
RUST, David J.: "The Tower"; http://www.witchinfo.net/archive/speak13.html
STAR, Michael: "The Tower Card XVI of the Tarot. An Interpretation"; http://www.astrologyzine.com/tower.shtml
VIBRANS, Martin: "Predigt am Sonntag: Kantate zum Familiengottesdienst anläßlich der Einweihung des Kirchturms in Tryppehna 10.5.1998"; http://www.predigtdatenbank.de/predigt.php3?predigt=215 [ursprüngliche URL] [diese Seiten gibt es nicht mehr]

Bemerkungen:
Diese Hausarbeit entstand im Rahmen des Hauptseminars "Film und Leben" im Sommersemester 2002. Diese Veranstaltung fand am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Geleitet wurde sie von Prof. Dr. Heide Schlüpmann und Sabine Nessel, M.A., die die vorliegende Arbeit mit "sehr gut" (1) benoteten.
J. E. Gözen schloß ihr Studium im August 2004 mit dem Magistra Artium in Theater-, Film- & Medienwissenschaft ab und ist heute Doktorandin am Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften.
Die Urheber- und Vervielfältigungsrechte für diesen Text bleiben bei der Autorin. Das heißt, daß ohne meine AUSDRÜCKLICHE Genehmigung nichts, auch nicht auszugsweise, vervielfältigt oder wiederveröffentlicht werden darf, weder zu kommerziellen, noch zu unkommerziellen Zwecken. Zitieren nach den allgemein gültigen Standards ist okay, aber es sollte schon eine Autorenangabe oder ein Hinweis dabeistehen, wo das Original zu finden ist.
Für Rückfragen und Kommentare bin ich unter der Email-Adresse leisha@mailandnews.de zu erreichen.
Letzte Link- und Fehler-Korrektur fand am 4. September 2006 statt.
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