Wim Hofman und seine Wim-Bücher.
Referat zu dem niederländischen Kinderbuchautor

von B. Reifschneider, gehalten am 27. Mai 1998

Abstract:
Zwei Kinderromane von Wim Hofman, Wim und Wim und Johnny, werden in diesem Referat vorgestellt und die Besonderheiten von ihnen und dem Autor herausgearbeitet. Beide Bücher sind erst 1997 in deutsch erschienen, obwohl Wim Hofman einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren in den Niederlanden ist und Wim schon 1976 dort herauskam. Sie behandeln die Situation des elfjährigen Wim, dessen Eltern kurz vor einer Scheidung stehen und ihn beide daher sehr vernachlässigen.
Dieses Referat stellt hauptsächlich die beiden Bücher vor, aber geht auch auf den Autor und darüber hinausgehende Fragen ein.

Einleitung
    -Biographie von Wim Hofman
    -Anmerkungen zu den Büchern
Stilistisches
    -Erzähler usw.
Inhalt und Setting
    -Setting und Charaktere
    -Inhaltsangabe
Form gleicht Inhalt
    -Auswirkungen der Scheidungssituation
    -Schreibstil von Wim Hofman
Familiensituation
    -Die Familienentwürfe
    -Vermittlung und impliziter Autor
Schluß
    -Das Besondere am Autor
    -Einordnung in den Kanon; Gattung
Literaturliste
Wichtige Bemerkungen!
Einleitung

Biographie von Wim Hofman:
Wim Hofman wurde 1941 in Oostkappelle in den Niederlanden geboren und verbrachte seine Kindheit in der im Zweiten Weltkrieg heftig umkämpften Hafenstadt Vlissingen. Er studierte Theologie und Philosophie bei den "Witte Paters", um Missionar zu werden und erhielt eine umfassende Priester- und Missionarsausbildung. Er wurde zwar später als Missionar nicht genommen, wurde jedoch trotzdem Pfarrer und ging für ein paar Monate nach Afrika und arbeitete später bei einer Organisation, die sich um die Belange ausländischer Gastarbeiter in den Niederlanden kümmerte. Heute lebt er als freischaffender Künstler und Autor in Oostkapelle und ist zudem mit einer Vielzahl von kulturellen und redaktionellen Arbeiten, besonders aus dem Kinder- und Jugendliteraturbereich, beschäftigt.
Sein Werk im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, das schon 1955 mit Straf begann und über zwanzig Bücher umfaßt, hat in den Niederlanden bereits eine Vielzahl von Preisen bekommen, darunter den Theo Thijssen Prize für sein Gesamtwerk im KJL-Bereich. Die meisten seiner Bücher illustriert er selbst und er hat auch als Illustrator und Künstler einige Preise erhalten (Goldenen Pinzel, Silberne Feder u. a.)

Anmerkungen zu den beiden Büchern:
Wim erschien bereits 1976 in den Niederlanden und wurde 1997 als Erstausgabe bei dem Münchner Taschenbuchverlag tabu verlag herausgegeben. Wim und Johnny folgte zwei Jahre später 1978 in den Niederlanden und kam ebenfalls 1997 beim tabu verlag auf deutsch heraus. Beide Bücher sind auf deutsch nach der sogenannten neuen Rechtschreibung und in Blocksatz geschrieben.
Wim ist mit 30 Tuschezeichnungen von Wim Hofman versehen, so daß durchschnittlich alle vier bis fünf Seiten ein Bild kommt. Die Kapitellänge ist uneinheitlich und schwankt von bis zu zehn Seiten ('Frosch') bis hin zu einer Seite mit einem einzigem Satz ('Mücke'). Die Altersempfehlung vom Verlag aus stuft das Buch "ab 8" ein, Wim und Johnny hat keinen Altershinweis.

Stilistisches

Erzähler usw:
Auch wenn der Vorname von dem Protagonisten und dem Autor identisch ist, sind die Bücher über Wim nicht autobiographisch. Sie spielen nicht in den Vierzigern oder den Fünfzigern, sondern aufgrund der vorkommenden Gegenstände (wie Kondome, Fernseher, Leuchtstoffröhren) kann man vermuten, daß sie zur Zeit des Erscheinens in den späten Sechzigern spielen, in Wim und Johnny sagt die Freundin des Vaters, Majan, sogar einmal, daß sie im Zweiten Weltkrieg noch nicht geboren war.
Die Geschichten sind keine Ich-Erzählungen, sondern werden im hier und jetzt von einem subjektiven Erzähler erzählt und beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Leben und Erleben des elfjährigen Wim. Nur ganz selten wird für kurze Zeit mit einem anderen, auktorialem Erzähler in einer anderen Wahrnehmung geschaut, wo selbst Wim manchmal unbestimmt als "ein Junge" (Wim S.50) bezeichnet wird. Man bekommt in solchen Fällen Sachen mit, die der Protagonist nicht mitbekommt, zum Beispiel wie er nachts von einer Fliege gestochen wird. Ansonsten ist die Wahrnehmung auf Wim zentriert und der Leser erfährt auch dessen Innenleben und Gedanken. Daraus zieht die Geschichte auch eine gewisse Art von Komik, wenn das, was Wim gerade sieht oder erlebt, in dessen Gedanken sehr nüchtern, manchmal zynisch oder traurig, kommentiert wird. Damit wird Wim als eine sehr illusionslose Persönlichkeit dargestellt, die eigene, von der Außenwelt unbemerkte, Konflikte und Wünsche hat.
Die Darstellung der Ereignisse und der Gedankengänge erfolgt auf sehr direkte Weise. Adian Chambers schreibt in dem Vorwort von "Behind the Story" von Joke Linders und Marita de Sterck, daß Direktheit überhaupt eine der bemerkenswertesten niederländischen Tugenden ist, die sich in Büchern von niederländischen Autoren findet. Diese Direktheit, wie sie sich zum Beispiel bei der 'Quallenszene' (Wim S.12f) oder dem 'Frosch-ins-Klo' (Wim S.83f) oder der toten Katze (W&J S.10f) zeigt, ist nach Chambers Ansicht darauf zurückzuführen, daß die Niederländer mit solchen Kinderbüchern ihre Kinder sehr bewußt auf eine brutale und grausame Realität vorbereiten und vor Mißbrauch und Ausbeutung schützen wollen.


Inhalt und Setting

Setting und Charaktere:
Die beiden Bücher über Wim spielen in der niederländischen Hafenstadt Vlissingen (Quelle: Thiel). Der Protagonist, Wim, ist ein elfjähriger Junge, der im ersten Buch mit seinem vier Jahre älteren Bruder und seinen beiden berufstätigen Eltern in einem Einfamilienhaus wohnt. Körperlich hat er keine bemerkenswerten Besonderheiten, außer daß er eine Brille hat.
Die Eltern von ihm verstehen sich nicht mehr besonders gut, eine Situation, die ihm Freiräume gibt, aber ihn auch sehr belastet. Der Vater hat eine Freundin, Marjan, die Mutter hat ebenfalls einen Freund. Die Eltern versuchen Wim möglichst aus dem Konflikt zwischen ihnen herauszuhalten und vor ihm offene Streitigkeiten zu vermeiden, was er jedoch durchschaut (Wim S.15). Meistens versuchen seine Eltern sich aus dem Weg zu gehen, in dem sie kaum zuhause sind, wodurch Wim meistens auf sich alleine gestellt ist. Er nutzt diesen Freiraum und ist ebenfalls viel unterwegs, am Strand und in der Stadt, da ihn sein älterer Bruder oft drangsaliert, wenn er zuhause ist.
Wim hat im ersten Buch keine Freunde, aber er lernt schnell andere Kinder kennen, ohne eine nähere Beziehung aufzubauen. Er scheint allerdings auch keine größeren Probleme mit dieser Tatsache zu haben, aber manchmal scheint auch durch, daß er gerne eine freundliche Schwester oder einen verläßlichen Freund hätte.

Inhaltsangabe:
In Wim passiert nicht viel, Wim hat Sommerferien und somit viel freie Zeit. Er ist oft am Strand und fängt Garnelen oder unternimmt etwas mit der selbstbewußten Liesje, die er dort kennenlernt. Zu Hause gibt es meistens Streit zwischen den Eltern oder mit seinem Bruder. Nicht nur Wim wird vernachlässigt, das Essen im Kühlschrank ist verdorben oder er entdeckt Mehlwürmer, die er in Zuchtflaschen steckt. Ansonsten beschäftigt sich Wim häufiger mit Tieren, er fängt einen Frosch oder sammelt Wattwümer, ohne daß man darin einen besonderen Sinn oder eine Sorgfalt sehen könnte.
Wim stolpert meines Empfindens nach durch die Tage, er läuft einfach einem Hund, den er auf der Straße sieht, ohne Ziel hinterher (S.24f) oder läßt sich von Liesje mitziehen, ohne daß Wim einmal die Initiative ergreift und sagt, was er will.
Doch innerlich scheint Wim von der ganzen häuslichen Situation, vor allem durch das Verhalten seiner Mutter, sehr belastet zu sein, so daß er einfach irgendwann beschließt, von Zuhause wegzugehen. Er sammelt noch ein paar Gegenstände ein und dann trampt er am nächsten Morgen mit einem Lastwagen los. Er lernt auf seiner Reise den Fahrer Simon ein bißchen kennen und erhält Einblick in die Trucker-Szene, deren rauher männlicher Umgangston ihm nicht besonders gefällt. So verdrückt er sich an der ersten Rastanlage und läßt sich einfach von seiner Nasespitze führen ("Eine Nase ist eine Art Zeigefinger am Gesicht. 'Dahin also', sagte Wim." S.104) Auf dem Land ist auch nicht viel los und nachdem Wim sich in einem kleinen Dorf umgeguckt hat, hat er die Idee, sich ein eigenes Zuhause aus altem Gerümpel zu bauen. Dabei verletzt er sich zwar leicht, aber seine Hütte schützt ihn immerhin vor einem plötzlichen Sommergewitter. Da er nicht kein Essen dabei hat, versucht Wim auf einem Bauernhof Möhrrüben zu stehlen, was jedoch nicht unbemerkt bleibt.
Er muß feststellen, daß sein Landleben auch keine Alternative ist, da er in seiner Hütte noch nicht einmal schlafen kann und kehrt zurück zur Zivilisation und übernachtet, nur von dem Bauernmädchen Tootje bemerkt, die ihm auch hilft, in der Scheune. Am nächsten Morgen ist sein Ausreißer-Abenteuer zuende, nachdem er von Tootjes Mutter versorgt wurde, werden seine Eltern benachrichtigt und Wim wird von der Freundin seines Vaters abgeholt und mit dem Zug zurückgebracht.


Form gleicht Inhalt

Auswirkungen der Scheidungssituation:
Dadurch, daß Wim Ferien hat, ist das Kind noch einsamer und er ist erst recht nicht in einem festen Tagesablauf oder einer stabilen Lebenswelt verankert. Der Roman Wim beschreibt, neben vielen anderen Dingen auch, auf eine sehr subtile Weise die sich anbahnende Scheidung der Eltern von Wim und dessen bewußtes und unbewußtes Umgehen damit. Das tut der Roman gerade durch die Direktheit, mit der die Geschichte erzählt wird, aber es sind immer nur Fragmente, die von den Ereignissen oder Gedankengängen gezeigt werden. Darin erfährt der Leser, daß es ständig Ehekrach zwischen Wims Eltern gibt, diesen jedoch vor ihm nicht offen austragen wollen (S.15). Jedoch setzen sie andererseits voraus, daß der Junge alles schon weiß, obwohl es ihm keiner so richtig mitteilt (S.27f, S.74).
Der Streit seiner Eltern läuft wohl schon eine längere Zeit, der Rasen wird nicht mehr gemäht, die Wäsche nicht mehr gewaschen und in der Speisekammer verkommen die Vorräte. Beide Eltern sind angespannt und trinken und rauchen wohl häufig und kümmern sich nicht um den Haushalt, und donnern sich trotzdem jeden Abend auf, wenn sie weggehen. Wim fühlt sich in dieser Situation alleingelassen, er macht das Beste daraus und versucht irgendwie möglichst unabhängig zu leben, jedoch ist er trotz eines kleinen Jobs in einer Hotelküche auch auf das Geld seiner Eltern angewiesen (S.42f). Aber Wim leidet innerlich sehr an der Vernachlässigung durch die Eltern, fast jeden Abend beim Zubettgehen, vor allem nach kurzen Diskussionen mit seinen Eltern, muß er ganz plötzlich hochkommende Tränen unterdrücken (S.44, S.74, S.123), die er selbst einmal als "Kummertränen" bezeichnet. Doch die Familiensituation beeinflußt Wim noch mehr. Sein ganzes ziellosen Dahinleben zeigt, wie sehr ihm Liebe und Anleitung fehlen.

Schreibstil von Wim Hofman:
Dem Leser wird es leichtgemacht, sich auf diese Situation einzulassen und Wims Empfindungen nachzuvollziehen. Es wird kein komplizierter Spannungsbogen entworfen, keine vielschichtige Handlung, sondern eine Welt wird präsentiert. Diese Welt zeigt keine idyllische Kindheit, die von guten Wesen bevölkert ist, sondern eine, wo jeder für sich ist und auf die eine oder andere Art sich mies verhält. Die Eltern, die nur an sich denken, Wims Bruder, der ihn peinigt, aber auch Wim, der keine moralischen Konflikte hat, andere Leute auszunutzen oder zu schädigen, sie alle machen deutlich, daß die Kindheit eine miese Lebensphase wie alle anderen auch ist.
Das Buch ist praktisch wie Wims Wahrnehmung geschrieben. Er bekommt bei den Streitigkeiten immer nur einzelne Teile mit und bekommt nie die ganze Geschichte erzählt und muß sich folglich den Rest zusammenreimen. Genauso ergeht es dem Leser, dem oft in recht lockerer Folge der Tagesablauf von Wim geschildert wird, ohne daß ein zusammenhängendes, homogenes Bild entsteht. Vielmehr sind zahlreiche Brüche und abgebrochene Assoziationen da und es bleibt einem selbst überlassen, ob man in seiner Phantasie sich das Davor und Danach, welches nicht im Buch steht, imaginiert. Und gerade das wird durch den hervorragenden Schreibstil von Hofman angeregt.
Der Jugendschriftenausschuß des BLLV betont ebenfalls diese Fähigkeit Hofmans "die kalte Stimmung in der der Familie, die Sprachlosigkeit" (BLLV) dem Leser zu vermitteln, so daß es ihm möglich ist, sie "bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen" (BLLV). "Der Schriftsteller verwendet dazu vor allem kurze Sätze, die Dialoge wirken gleichsam abgehackt - die Sprachlosigkeit kommt dadurch sehr gut zur Geltung" (BLLV). Seine Übersetzerin Hedwig von Bülow stellt 1993 im Eselsohr fest, daß seine Sprache und sein Schreibstil sehr bewußt ist und "jedes Wort seinen unverrückbaren Platz und sein eigenes Gewicht im Fortlauf einer Geschichte" (Eselsohr 9/93) hat. Es geht Wim Hofman um "Ehrlichkeit, um Form und Sprachgestaltung bei der Verarbeitung eines Themas, und vor allem um Deutlichkeit" (Eselsohr 9/93).
In den beiden Büchern über Wim merkt man dieses Anliegen, die Sprache einzusetzen, um die psychische Verfassung des Protagonisten deutlich zu machen, seine Denk- und Wahrnehmungsweisen. Die Ereignissequenzen und Gedankengänge, die beschrieben werden, sind oft recht kurz, aber wenn der Leser sich auf das Buch einläßt, erreicht die knappe, direkte und deutliche Sprache, ohne viele Adjektive einzusetzen, daß trotzdem alles klar ist und gar nicht mehr gesagt werden müßte.


Familiensituation

Die Familienentwürfe:
In Wim geht es um die zerrütteten Familienverhältnisse, unter denen Wim leiden muß. Vor seiner eigenen Familie nimmt er reißaus und flüchtet. Auf seiner kurzen Reise lernt er auch noch andere Familienentwürfe kennen, mit denen er sich anscheinend auch nicht anfreunden kann.
Noch bevor Wim sich auf und davon macht, kommt er mit der ersten anderen Familie in Kontakt, mit der Familie Prinz, zu der Liesje gehört. Sie haben ein Ferienhäuschen am Strand und kommen von woanders her. Sie ist eine klassische Kleinfamilie aus Vater-Mutter-Kind und man lernt sie zweimal im Buch kennen. Jedesmal benehmen sich die Erwachsenen auf eine alltägliche Weise etwas unfreundlich gegenüber ihrer Tochter und Wim und schenken ihren Wünschen keine Beachtung. Sie nehmen das, was die Kinder sagen, zwar ernst, aber nur um ihre intellektuelle Überlegenheit zu beweisen und schränken ihre Tochter mit undurchsichtigen Verboten ein. Ihr ist es verboten, Kraftausdrücke zu verwenden oder länger, als ihre Eltern es gestatten, aufzubleiben. Liesje ist dagegen etwas aufmüpfig und äußert selbstbewußt ihre Wünsche, aber erreicht bei den Eltern nichts. Wim beobachtet das Familienleben etwas abseits von außen, und obwohl man keinen direkten Kommentar von ihm dazu hört, hat man den Eindruck, als würde er diese fremde und geschlossene Welt wenig attraktiv finden.
Die erste Art von 'Familie', die Wim auf seinem Weg weg von seiner eigenen Familie trifft, ist die Gemeinschaft der Lastwagenfahrer. Der Trucker Simon nimmt ihn widerspruchslos auf und läßt ihn mitfahren. Auch wenn der Dialog zwischen den beiden zunächst durch Distanz geprägt ist, entwickelt sich schnell ein persönliches Gespräch. Auch Simon ist in einer mißliebigen Familiensituation und flüchtet immer wieder vor dem Gerede seiner Frau zur Arbeit. Er findet seine Geborgenheit (wenn man es so nennen will) in der Truckerszene. Aber Wim wird nicht ablehnent behandelt, obwohl er hier als Außenstehender behandelt wird. Der rauhe und männliche Umgangston, der hier gepflegt wird, schafft Unbehagen bei Wim und er möchte nicht weiter mit diesen Leuten zu tun haben. Hier findet er auch nicht die Obhut, die er sucht und verläßt die Truckergruppe wieder.
Auf dem Land lernt er am letzten Tag seines Ausbruchs die Familie von Tootje auf dem Bauernhof kennen. Er begegnet dem Mädchen Tootje und ihren drei Brüdern schon einen Tag vorher als er versucht, Möhren vom Hof zu klauen, was jedoch eine Auseinandersetzung mit den Jungen zur Folge hat. Das Mädchen Tootje hingegen ist freundlich zu ihm und läßt ihn auch auf dem Bauerhof in der Scheune schlafen und versorgt ihn mit Essen. Ihre Mutter ist bei dem Möhrenklau streng, jedoch nachdem sie Wim näher kennt, ist sie überaus freundlich und hilft ihm, so daß Wim sich unsicher fühlt und "wusste nicht, wie er sich verhalten sollte" (Wim S.129). Das Verhältnis der Mutter zu ihrer Tochter ist anscheinend gut und auch in anderer Hinsicht scheint diese Familie einen gesunden Kompromiss gefunden zu haben, der den einzelnen Mitgliedern Freiheit läßt und trotzdem ein geschlossenes System von Zuneigung bietet.

Vermittlung und impliziter Autor:
Der Autor stellt diese Familientypen vor, jedoch ist nicht klar, ob er eine bevorzugt und dem Leser vermittelt, daß diese oder jene die 'beste' für Wim wäre. Während bei den ersten beiden, Familie Prinz und die Trucker, Wims Abneigung deutlich wird, ist es bei der Bauernfamilie nicht so einfach. Während der Leser den Eindruck haben könnte, hier sei das, was Wim sucht, steht der Autor ausschließlich auf der Seite Wims und macht von sich aus keine Andeutung, welche Familie er Wim vorschlagen würde. Da Wim anscheinend von keiner besonders angezogen ist, beschreibt Hofman auch nur diese Teilnahms- und Interesselosigkeit und läßt unausgesprochen, warum Wim der letzten Familie so fremd gegenübersteht, wo es ihm sonst so leicht viel, Freunde zu finden. Ob es die Leblosigkeit des nahen Dorfes ist, die ihm wenig Aufregung verspricht, oder sein angeschlagener körperlicher und psychischer Zustand, der sein Gefühl von Heimweh verstärkt, kann nur Spekulation sein, im Buch findet man keinen direkten Hinweis, warum er sich so bereitwillig abholen läßt und zurück "in den Tunnel hinein" (Wim S.138) geht.


Schluß

Das Besondere am Autor:
Wim Hofman ist einer der erfolgreichsten und bekanntesten Kinderbuchautoren in den Niederlanden. Seine Popularität ist nicht nur auf seine hervorragenden Bücher zurückzuführen, sondern auch auf Hofmans Wirken in der niederländischen KJL-Szene insgesamt. Durch seine Arbeit in mehreren KJL-Zeitschriften, mit anderen Autoren und Zeichnern, erhält er Feedback über seine eigenen Arbeiten und die anderer Autoren. Durch andere Projekte, z. B. Kindertheater, hat er auch unmittelbaren Kontakt zu Kindern und ist auf diese Weise immer sehr nahe an seinen Lesern und kann deren Lebenswelt sehr gut verstehen.
Der Autor hat außerdem die Abteilung Kinder- und Jugendroman im Letterkundig Museum in Den Haag mitaufgebaut und gehört der Kommission für Kinderpoesie an. In seinem gesamten Engagement sieht Hofman "eine gesellschaftliche Verantwortung - etwas für Menschen tun, ihnen helfen nachzudenken" (Eselsohr), besonders Kindern, "deren heutige Situation und Machtlosigkeit im Hinblick auf ihre Selbstbestimmung hier und überall in der Welt sehr viel Anlaß zum Nachdenken geben" (Eselsohr).

Einordnung in den Kanon; Gattung:
So läßt nicht nur das Erscheinungsjahr 1976 von Wim diesen Roman in die sozialkritische Kinderliteratur der späten Sechziger und Siebziger Jahre einordnen. Wim Hofman stellt ein Kind vor, dessen Eltern den Zwängen des modernen Lebens durch ihre Berufstätigkeit ausgeliefert sind, und die daraus resultierenden Probleme und Konflikte für sich in die Familie tragen und damit auch Wim belasten. Aber Hofman kritisiert nicht die Berufstätigkeit der Mutter oder spricht sich gegen eine Scheidung aus, er zeigt vielmehr, daß die moderne Arbeitswelt Anforderugen an die Familie stellt, die nicht alle aushalten können.
Der Autor stellt auch verschiedene Lebensweisen der Eltern vor, Wims Mutter, die es auf berufliche Karriere und Selbständigkeit abgesehen hat und einen reichen Freund hat, dagegen wird der Vater gezeigt, der vor allem in Wim und Johnny einen proletarischen Eindruck macht und kein Problem damit hat (Wim übrigens auch nicht), in einer kleinen Wohnung zu hausen. Hofmans Sympathie für diese Unterschichten-Mentalität zeigt sich schon in der Episode mit den Truckern, wo er auch eine kleine Arbeiterwelt vorstellt als Gegenentwurf zur großen Geschäftwelt, in der es keinen Zusammenhalt geben muß.
Hofman macht aus den Wim-Büchern keine psychologischen Kinderbücher, man erfährt zwar viel über Wims Psyche, aber man versteht nicht unbedingt alles, was in ihm vorgeht, sondern der Leser ist vielmehr angeregt, über sein eigenes Empfinden nachzudenken.

Der Autor Wim Hofman
"[...] Warte, da ist noch jemand im Wasser. Da geht ein Junge im Wasser hin und her. Er zieht etwas an einer Leine. Ein Schleppnetz.
Es ist Wim.
Wim ist kein Tourist. Er wohnt in der Stadt hinter den Dünen.
Das Wasser geht ihm bis zum Nabel. Die Netzleine scheint ihn in Nacken und Schulter zu schneiden. Er zieht mit einer Hand. Die andere Hand schlenkert hin und her. Das Ziehen ist eine ziemliche Arbeit, wie man sieht. Es geht schwer. [...]"
(Wim S.8f)
"[...] 'Wahrscheinlich bin ich an eine Qualle gekommen.'
'Schon möglich', sagt Wim. 'Quallen gibt es hier genug. Und können gemein brennen.'
'Es beißt und brennt', jammerte sie, 'genauso, als wenn ich durch Brennnesseln gelaufen wäre, nur noch schlimmer. Verdammt, was glaubst du, wie weh das tut!'
'Du musst draufpinkeln', sagte Wim.
'Wie bitte?', fragte das Mädchen verblüfft.
'Du musst Pisse drauf tun', sagte Wim, der mit nassen Füßen in seine Schuhe schlüpfte. [...]"
(Wim S.12f)
Wim
"[...] Ein großer Lastwagen, ein blauer Daf. Der Fahrer saß in der offenen Tür. Er spuckte auf die Straße. Die Spucke hatte die Form eines Ausrufezeichens! Ein Strich mit einem Punkt darunter.
'Darf ich ein Stück mitfahren?', fragte Wim.
Der Fahrer trug ein ärmelloses Hemd. Er hatte krauses Haar auf den Armen. Der Mann rauchte eine Selbstgedrehte. Wegen des Rauchs kniff er ein Auge zu. Mit dem anderen Auge betrachtete er Wim.
'Wenn ich zu Ende geraucht habe.' [...]"
(Wim S.89)
"[...] 'Igitt', rief Steven, der schon bei der Kiste war. 'Seht euch das an! Hier liegt ein totes Tier.'
'Eine Katze', sagte Ankie, die neugierig näher kam. Sie verstand etwas von Katzen. Zumindestens sagte sie das immer. 'Eine krepierte Katze. Der Bauch ist ganz dick.'
Das tote Tier sah scheußlich aus. Es lag gekrümmt in einer Lattenkiste. Was auffiel, war das Grinsen, die Reihe weißer Zähnchen. Die Augen waren nicht zu sehen, sie fehlten. Das nasse Fell sträubte sich nach allen Seiten und auf dem Bauch konnte man ein Stückchen Haut sehen. [...]"
(Wim und Johnny S.10)
Wim und Johnny
"[...] 'Macht nichts, wir kaufen uns neue Lollis', tröstete Steven.
'Ohne mich', sagte Wim. 'Ich geh nach Haus.' Wim stand auf.
'Nach Haus?', fragte Steven. 'Du hast doch keine Mutter.'
'Doch', sagte Wim. 'Die hab ich wohl.'
'Ist deine Mutter nicht fort?'
'Ich fahr nach England', sagte Wim.
'Wann?'
'Heute Nacht oder morgen, wenn es nicht mehr stürmt. Deshalb muss ich jetzt nach Hause, um meinen Koffer zu packen.'
'Gehst du für immer?', fragte Ankie.
'Vielleicht', sagte Wim. [...]"
(Wim und Johnny S.66)
"[...] Der Abend kam, fühlte mit dunklen Fingern unter Tischen und Stühlen, machte alles grau und schwarz: die Tür, die Wand; die Kleider auf dem Stuhl wurden zu schwarzen Wesen, die sich anschickten wegzufliegen. Schatten krochen über alles hinweg und unter allem hindurch.
Wim starrte auf die Wand. Es wurde immer dunkler. Vielleicht gab es in dieser Gegend keine Laternen oder sie gingen eher aus. Die Flecken auf der Tapete wurden lebendig. Sie wuchsen zu Ameisen, Kakerlaken oder schwimmenden Larven.
Lieber die Augen zu. Aber auch hinter den Augenlidern schwamm alles Mögliche. Kleine schwarze Fische mit Bärten und Fangarmen. Schlammfische. Ein hellgrüner Kreis stieg langsam von links unten nach rechts oben, ein riesiger Drachen aus Zeitungspapier schob alles vor sich her. Die Buchstaben flatterten heraus und wurden auch zu kleinen Tieren, Insekten mit lila Augen.
Also doch lieber die Augen wieder auf. [...]"
(Wim und Johnny S.120)
Institut für Jugendbuchforschung der JWG Universität Frankfurt
Wim Hofmans Biographie und Werk (niederländisch)
Wim Hofmans Seite beim Querido Verlag (niederländisch)
De Verborgene Stad. Wim Hofman. Arpeggio (niederländisch)
Riesige Linksammlung mit Fachinformationen für Germanisten
Literaturliste

Bücher:
LINDERS, Joke; DE STERCK, Marita: "Behind the Story. Children's Books Authors in Flanders and The Netherlands."; Amsterdam 1996

Artikel:
BÜLOW, Hedwig von: "Wim Hofman" In: Eselsohr 9/93
(keine Autorenangabe) Rezension von Wim und Johnny In: Bücherbär 4/97
(keine Autorenangabe) Rezension von Wim In: Thurgauer Zeitung vom 9.9.1997

Sonstiges:
Anmerkungen der Jugendschriftenausschuß des BLLV zu Wim (von Anita Haber)
Middelhauve Literatur Gesamtverzeichnis Herbst 1997
tabu verlag Gesamtverzeichnis 1998

Internettexte:
BRANDENBURG, Kees: "De Verborgene Stad. Wim Hofman. Arpeggio" In: http://people.zeelandnet.nl/vleeshal/stad/astad11.htm [diese Seite hatte beim Schreiben der Arbeit eine andere Adresse]
FEIJ, Carolijn: "Zeeland Public Radio and Television" In: http://people.zeelandnet.nl/flipfeij/ [der Inhalt dieser Seite hat sich völlig geändert]
THIEL, Richard: "Nederlandse plaatsen in kinder- en jeugdboeken" In: http://www.kjoek.nl/keuzelijsten.php?submenuid=2a91bf295923d9c21f0 [diese Seite hatte beim Schreiben der Arbeit eine andere Adresse]
VRANCKX, SARAH: "De Toverkrant" in: "De toverhoed - kindernieuws 14. März 1998" In: http://kidcity.planetinternet.be/nederlands/krant/toverkrant/hofman.htm [diese Seite gibt es nicht mehr]

Schrijvers Net: "Nieuws en Agenda" In: http://www.corpus.nl/schrijversnet/nieuws/nieuwsmaart98.htm [diese Seite gibt es nicht mehr]

Bemerkungen:
Dieses Referat entstand im Rahmen des Seminars "Aktuelle Tendenzen des Kinderrromans" im Sommersemester 1998. Diese Veranstaltung fand am Institut für Jugendbuchforschung (Germanistik) an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Geleitet wurde sie von Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, der die vorliegende Arbeit mit "gut" (2) benotete.
B. Reifschneider schloß sein Studium im Mai 2000 mit dem Magister Artium in Theater-, Film- & Medienwissenschaft ab und ist heute Doktorand am Fachbereich Neuere Philologien.
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