Ralf Theniors Jugendroman Die Nacht der Sprayer.
Germanistik-Referat im Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur

von B. Reifschneider, gehalten am 5. November 1998

Abstract:
Ralf Thenior versucht in seinem Roman Die Nacht der Sprayer die Elemente jugendliche Detektivgeschichte und Graffitiszene zu verknüpfen. Mit seiner Art der Verbindung muß er dabei zwangsläufig scheitern. Warum das passiert und was es noch über dieses Buch und die weiterführenden Problematiken zu sagen gibt, wird in dieser Arbeit ausgeführt und erklärt.
Diese Ausarbeitung eines 20-Minuten-Referats stellt zunächst den Autor und seinen Jugendroman vor, wertet dabei aber schon recht stark und beschäftigt sich zudem ferner mit der Frage, auf welche Weise man sich einer postmodernen Jugendkultur wie der Sprayerszene literarisch nähern kann.

Biographie
    -Ralf Thenior
Bemerkungen
    -Bemerkungen zu Die Nacht der Sprayer
    -Erzähler usw
Inhalt und Setting
    -Setting und Charaktere
    -Inhaltsangabe
Ergebnis
    -Sprayer-Szene und Detektivroman
    -Schreibweise von Ralf Thenior
    -Neugierbefriedigung
    -Inhalt bestimmt Form
Literaturliste
Wichtige Bemerkungen!
Biographie

Ralf Thenior:
Ralf Thenior ist Jahrgang 1945. Er wurde in Bad Kudowa (Schlesien) geboren und wuchs (wegen der Vertreibung seiner Familie) in Hamburg auf. Er erlernte zunächst den Beruf des Verlagkaufmanns und "jobbte in den unterschiedlichsten Berufen: als Gärtner, Maurer und Kellner" (Presseinfomation). Er leistete Zivildienst und studierte Germanistik im Saarland, wo er schließlich ein Übersetzer-Studium für Englisch abschloß.
Seit 1969 erscheinen Gedichte und Prosa von Ralf Thenior in Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk. 1977 erschien der erste Gedichtband von ihm. Außer Gedichten und Prosa für Erwachsene verfaßte er auch Radio-Essays und Hörspiele. 1993 erschienen seine ersten Kinder- und Jugendromane, die Schloßgespenst-Bände, vor deren Schreiben er "mehrere Jahre in einem Wasserschloß im Münsterland verbracht" (Presseinformation) hat.
Für seine Arbeiten erhielt Ralf Thenior verschiedene Literaturpreise, zuletzt den Literaturpreis Ruhrgebiet 1990 und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 1993.

Bemerkungen

Bemerkungen zu Die Nacht der Sprayer:
Die Nacht der Sprayer erschien 1995 bei der Jungen Reihe im Ravensburger Buchverlag. 1998 kam es als Taschenbuch in demselben Verlag in der Reihe "Reality" heraus. Das Lesealter wird auf dem Umschlag mit "Jugendliche aufwärts" angegeben, ganz nach dem gegenwärtigen Verhalten der Verlage, bei Jugendbüchern keine Altersangaben mehr zu machen, um keine potentiellen Leser zu verschrecken.
Die Nacht der Sprayer ist das zweite Buch von Ralf Theniors 'Dortmund-Triologie'. Das erste davon ist der Satanisten-Roman Die Fliegen des Beelzebub, 1993; das letzte ist Greifer von 1998. Diese Bücher spielen alle in Dortmund, wenngleich auch die Geschichten keinen Zusammenhang haben und auch nicht die selben Protagonisten benutzen. Über seinen dritten Roman dieser Art sagt Thenior selbst (und das würde er sicher auch zu Die Nacht der Sprayer erzählen), "Ein Buch für jede Altersgruppe, nicht nur für Jugendliche und junge Erwachsene" (Ruhr-Nachrichten). Auch hier wird die erweiterte Zielgruppe der neuen Kinder- und Jugendliteratur verdeutlicht; Thenior hat den Anspruch, daß das Buch ein "realistischer Roman der ausgehenden 90er Jahre" (Ruhr-Nachrichten) sein soll. Bei der Taschenbuchausgabe von Die Nacht der Sprayer wird dies noch unterstrichen durch die Einordnung in die Reihe "Reality".
Der Roman hat ein Glossar mit den Szene-Vokabeln, die in dem Buch gebraucht werden. Diese Wörter sind im Text fett hervorgehoben, "so daß keine Erklärungen innerhalb des Texts den Erzählfluß stören." (Rak) So macht das Buch ganz direkt deutlich, wie nah es an der Sprache der jugendlichen Sprayer ist.
Die Geschichte (ohne die Einleitung und den Schluß) hat 21 Kapitel von durchschnittlich 6-7 Seiten Länge und weicht im Extremfall auch nur wenig davon ab. Anzumerken ist, daß in der Taschenbuchausgabe das Inhaltsverzeichnis zum Teil mit falschen Seitenzahlen ausgezeichnet ist.
Das Buch ist nach der "neuen Rechtschreibung" verlegt.

Erzähler usw:
Die Nacht der Sprayer besteht aus einem Prolog, der Geschichte und einem Epilog. Die gewalttätige Einleitung, die zeitlich etwa in der Mitte der gesamten Erzählung spielt, soll wohl so etwas wie ein Preview für den unentschlossenen Jugendlichen sein, der noch nicht weiß, ob er das Buch kaufen soll oder nicht. Eine ziemlich unfaire Methode, denn schließlich wiederholt sich dieser rasante Stil der Eingangssequenz im ganzen Buch nicht mehr. "Zum Glück" mag man vielleicht auch denken, den immerhin ist diese Art der Beschreibung auf Dauer nicht sonderlich spannend oder fesselnd.
Der Rest des Buches hat dann einen Ich-Erzähler, Mike, der die Geschichte erzählt und eben nur im Vor- und Nachspiel etwas für einen auktorialen Erzähler zurücktritt. Mit dieser Art der Erzählweise nimmt sich der Autor scheinbar zurück und überläßt allein den Jugendlichen das Wort, er scheint ihre Sprache zu sprechen. Das zeigen schon die hervorgehobenen Sprayervokabeln und die stellenweise fast schon vulgäre Sprache, in denen die Protagonisten reden.


Inhalt und Setting

Setting und Charaktere:
Der Roman spielt im heißen Sommer 1994 in Dortmund, wohl kurz vor den Sommerferien. Hauptprotagonisten sind die fünfzehnjährigen Mitglieder der 3-D-DNS-Gang DASH, alias Mike, ZANE a.k.a. Nick und ROC, der eigentlich Holli heißt. Der Ich-Erzähler ist Mike, der in die neunte Klasse geht ("einmal hocken geblieben") und bei seiner alleinerziehenden Mutter lebt, die Abteilungsleiterin bei Woolworth ist. Diese weiß nichts (oder will nichts wissen) von dem Sprayen ihres Sohnes (das "würde ihr das Herz brechen"). Der Vater von Mike ist vor zehn Jahren von der Mutter wegen seiner Alkoholprobleme auf die Straße gesetzt worden. Mike scheint ihn nicht zu vermissen, allerdings überlegt er einmal, als er einen Penner auf der Straße sieht, daß dieser sein Vater sein könnte.
Mike lernt Nick beim Klauen von Edding-Stiften kennen, Nick hat nämlich auch gerade angefangen, Tags zu kritzeln. Er ist der Planer der Gruppe, ruhig und bedächtig, ist zuverlässig und geht kein Risiko ein. Seine Eltern wissen von den illegalen Aktionen ihres Sprößlings und haben nichts dagegen. Hier herrscht wohl so etwas wie Unterklassen-Solidarität, denn Nicks Vater ist arbeitslos, die Familie wird als locker und tolerant beschrieben. Eine leere Garage bei ihnen dient den drei Nachwuchssprayern als Hauptquartier, in dem sie sich treffen und ihre Aktionen planen.
Den dritten im Bunde treffen Mike und Nick, als sie ihre erste Sprühaktion vorbereiten. So kommt dann der rappende Holli dazu. Seine Eltern "stehen auf Kultur und Umgangsformen", sie sind anscheinend wohlhabender, und Holli hat es nicht leicht mit einem solchen Elternhaus, in dem man selbstverständlich nichts von Rap oder Graffiti hält.
Die Dortmunder Nordstadt, wo die drei leben, ist den Jungen zu grau und zu flach, und so beschließen sie, als 'Dreidimensional Dortmunder Nordstadt' mehr Farbe in ihr Leben zu bringen.

Inhaltsangabe:
Die Einleitung beginnt direkt und actionreich und läßt schon einen Action-Film wie Karate Kid in Buchform für den Rest des Romans erwarten. Aber es kommt dann anders, die Geschichte schwenkt zu einer konventionellen Erzählung von Mike um, der erzählt, wie sich die Jungen kennengelernt haben und was sie schon sprühenderweise so gemacht haben. Das ist natürlich furchtbar langweilig, und so fügt Thenior den klischeehaften Erziehungsberechtigten noch eine ebenso stereotype zweite Behinderung hinzu: eine Konkurrenz-Bande mit einem unsympathischen Anführer, die ebenfalls Wände bemalt. Auch diese Zutat trägt nur über ein paar weitere Kapitel, und schließlich beginnt endlich die 'richtige' Geschichte nach etwa einem Drittel des Buches.
Zu der Zeit, als Holli im Krankenhaus liegt (man erinnere sich an die gewaltvolle Roman-Einleitung), streifen die beiden anderen durch die Straßen und entdecken ein Bild von einer dritten Sprüher-Gang ze-görls. Unserem Chronisten Mike gefällt spontan der Name der Sprayerin Baby lone, zu recht, wie sich später herausstellt, denn sie ist die attraktivere der beiden Graffiti-Aktivistinnen und die beiden werden gegen Ende auch ein Paar. Nun aber, wie die beiden Jungs abends durch die Straßen ziehen, bekommen sie mit, wie ein paar finstere Gestalten eine Katze in einem Hinterhof an einer Stange aufhängen. Klar retten die beiden den Kater, und Mikes nächste Bilder sind aufgehängte Katzen. Diese bringen den Zorn der ze-görls gegen sie ein, aber nachdem man sich mit ihnen ausgetauscht hat, beginnt Ralf Theniors raffinierte Hintergrundstory Gestalt anzunehmen:
Der skrupellose Bauunternehmer Pannek will die Mieter aus einem Haus ekeln, und um eine widerspenstige Oma zur Räson zu bringen, muß eben ihr Kater Charly dran glauben. Und anstatt einfach zur Polizei zu gehen und die Machenschaften des kriminellen Unternehmers aufzudecken, gehen die vereinigten fünf Nachwuchsdetektive und Graffitikünstler zur Offensive über und machen sich eines Abends daran, die Baumaschinen des bösen Katzenmörders mit ihren Sprühdosen zu beschmieren. Doch dieser blinde Aktionismus geht in die Hose, sie werden überrascht und Mike und Baby lone fallen Panneks Schergen in die Hände. Der Ich-Erzähler bekommt dabei eine große blutende Wunde am Kopf und er und seine Freundin werden in das Haus von Pannek gebracht, wo sich die Handlung zu einer angedrohten Vergewaltigung zuspitzt.
Doch bevor es zu einem zünftigen Showdown zwischen Mike und dem Bauunternehmer kommen kann, kommt die Polizei und die beiden gefangenen Sprayer werden gerettet - nicht von Kommissar Groove, sondern Grove, aber immerhin.
So muß Thenior noch einmal sein altes Thema vom Graffiti-Wettkampf der beiden Gangs aufwärmen, um die letzten dreißig Seiten zu füllen. Wieder versuchen ze-görls und 3-D-DNS eine Großaktion, aber ihr Unternehmen, einen Nahverkehrszug zu verschönern, schlägt fehl und nur mit Mühe können sie alle den "Bahnbullen" entkommen.
Ganz zum Schluß versucht Thenior - wenig überzeugend - noch das Thema "Auseinanderleben von besten Freunden" einzubringen, was ihm aber ganz und gar nicht gelingt. Das sieht wohl der Autor selbst ein, denn diese Sache nimmt er im allerletzten Kapitel andeutungsweise wieder zurück und läßt den Leser auf eine Wiedervereinigung der fünf Dortmunder Teenie-Sprayer hoffen.


Ergebnis

Sprayer-Szene und Detektivroman:
Ralf Thenior nimmt sich also sehr viel vor, was er in Die Nacht der Sprayer behandeln möchte. Sein eigentliches Thema, die Graffiti-Szene, bildet lediglich die Kulisse, in der Thenior eine eigene Geschichte erzählt. So ist dann auch nicht eine gekonnte Auseinandersetzung mit der Welt der 'Aerosol-Junkies' der Hauptgegenstand des Buches, sondern der Autor versucht, mit Requisiten der Neunziger Jahre eine Geschichte der Fünfziger Jahre zu erzählen. Warum seine Protagonisten getrieben sind, Wände zu bemalen, wird nicht sehr deutlich. Zwar wird im Glossar erwähnt, daß Respekt und Anerkennung innerhalb der Sprayer-Szene das wichtigste für den Künstler sind, aber diese 'Sprüher-Bewegung' kommt im Buch außer ein paar gekauften Exemplaren einer Szene-Zeitschrift nicht vor.
Statt dessen präsentiert Ralf Thenior eine schlichte Abenteuer-Geschichte, wobei es ihm sichtbar Probleme bereitet, einen schnellen Einstieg zu finden. Ist dieser aber erst einmal gefunden, wird aus Die Nacht der Sprayer "ein absolut konventionelles Detektivbuch mit Sozialtouch." (Schiefer)
Die Gruppe von jugendlichen Ermittlern, die sich einem abgrundtief bösen und geldgierigen Vermieter entgegenstellen, ist nicht gerade die neuste Idee. Und so verhindern die fünf Graffiti-Sprüher, wenn sie nicht gerade nächtens Sachbeschädigung betreiben, die zweite Vertreibung einer ehemaligen Ostpreußin und rächen eine tote Katze.
Das Ende der Krimigeschichte nutzt der Autor, um sich wieder der Faszination der Sprayer zu widmen, aber er wärmt nur das erste Drittel des Buches noch einmal auf, ohne sich seinem Gegenstand weiter zu nähern. Und so verfällt Thenior im letzten Kapitel wieder in seine Lieblingstätigkeit, mit fast schon lyrischen Worten eine Szenerie einzufangen und zu beschreiben.

Schreibweise von Ralf Thenior:
Warum kommt dieses Resultat heraus? Mit welcher Arbeitsweise geht der 1945 geborene Autor vor, wenn er eine jugendliche Subkultur der Achtziger/Neunziger Jahre beschreiben will? Robert Wohlleben schreibt über Ralf Thenior: "Als er [Ralf Thenior] noch in Hamburg wohnte, setzte er sich regelmäßig zu den Rentnern und Arbeitslosen im Park am Eppendorfer Krankenhaus - Augen und Ohren weit offen. Geraucht hat er auch dabei, wie ich ihn kenne - und für seine Texte registriert. Das ist die Parkbank als literarische Methode." (Wohlleben)
Thenior stellt sein Selbstverständnis als Kinder- & Jugendliteratur-Autor in einer Anzeige des Ravensburger Buchverlags folgendermaßen vor: "[...] Wie ein Wissenschaftler von einem anderem Stern geht er durch die Welt. Seine Aufgabe ist es, das Leben der Erdlinge zu erforschen; wie sie reden, wo sie leben, was sie mit den Tieren machen usw. [...]" (Anzeige). Aus seinen Berichten sollen Bücher werden. "Davon lebt der Schriftsteller" (Anzeige).
Mit weit offenen Augen und Ohren hat sich Thenior seines Themas angenommen. Er hat beobachtet und registriert und kann die Sprache und Lebensumstände seiner Helden durchaus akkurat wiedergeben. "Respekt" würde Mike wahrscheinlich dazu sagen. Der Preis dafür sind seitenlange Beschreibungen, die der außerirdische Forscher aufgezeichnet hat, Dialoge, in denen die Personen auf 'natürliche' Weise miteinander reden, aber die Handlung nicht vorankommt und das Innenleben der Protagonisten nur wenig beleuchtet wird. Ralf Thenior sagt über sich selbst: "Noch immer sind die ersten Leseerfahrungen dem Schriftsteller in glücklichem Abglanz gegenwärtig und Leitbild." (Anzeige) Daß damit die frühen fünfziger Jahre gemeint sind, ist deutlich zu erkennen.

Neugierbefriedingung:
Sicher ist, daß Thenior kein Buch schreiben wollte, das nur für eingeweihte Sprayer interessant ist. Vielmehr lebt er "von der Hoffnung, viele Leser zu finden" (Anzeige). Sein Buch ist gerade für die Leute spannend, die eben nichts mit der Sprüher-Szene zu tun haben, aber mehr darüber wissen möchten, die sich vielleicht jeden Tag in der U-Bahn über die bunten Graffitis wundern. Für eine solche Zielgruppe ist Die Nacht der Sprayer möglicherweise geeignet, um sich näher mit diesem Phänomen zu beschäftigen.
Ralf Thenior benutzt hier eine der wichtigsten Funktionen von Literatur, die nur selten zugegeben wird: Literatur zur Befriedigung von Neugier. Der Titel und die ganze Aufmachung des Romans verkünden, daß hier ein Buch ist, welches seine Geschichte und seine Charaktere in dieser Subkultur ansiedelt, also einen gefahrlosen Weg bietet, Neugier zu befriedigen und Wissen zu vermitteln. Die Einleitung scheint das auch gleich zu bestätigen, hier werden alle herkömmlichen Klischees über die Sprayer losgelassen: Jungs, die nur schöne Bilder in der tristen Großstadt machen wollen und keine Sachbeschädigung; böse Menschen, die schnell gewalttätig werden und ohne zu fragen zuschlagen, obwohl das Bild doch legal ist; die exotischen Ausdrücke und Namen der Sprayer.
Dann ändert sich die Erzählform und die Frage, warum die Jugendlichen sprayen, wird zwar nicht beantwortet, doch der Leser erfährt viel über die gebräuchlichsten Fachbegriffe und einige Graffiti-Styles und die persönlichen Lebensumstände der Protagonisten. Und hier baut Thenior das Fremde weiter ab, die Leser erfahren, daß die Sprayer auch nur ganz normale Menschen sind, mit alltäglichen Problemen in der Familie, mit der Freundin und der Schule. So verteufelt der Autor die Sprüher nicht, sondern er will Sympathie wecken für die drei Jungen, die keine Freundin haben und eben abends mit ihren Sprühdosen Wände bemalen müssen. In dieser wohlwollenden Darstellung lernt der Leser tatsächlich wenig über die Hintergründe, Thenior 'ent-exotiiert' hier die Szene und bemerkt dabei wichtige Punkte nicht.
Zwar wird die Verbindung zu der schwarzen Ghetto-Musik Hip-Hop durch den rappenden Holli leicht angedeutet, doch der politische Anspruch von Rap und Graffiti fehlt völlig. Für Thenior und seine Protagonisten erübrigt sich das Sprayen, sobald sie eine feste Zweierbeziehung gefunden haben. Ab diesem Moment sind sie dann auch nur noch Betrachter, die über Graffitis fachsimpeln, aber keine Bilder mehr machen. Sie sind so in der Tat Touristen geworden und ihre Eltern können sich freuen, daß ihre Söhne den letzten Makel der Illegalität verloren haben. Mike und Holli werden so wie ihre braven Eltern und der einzige, der mit dem Sprühen nicht aufhören kann, ist Nick, der leider keine Freundin gefunden hat, aber dessen Eltern fanden ja Graffiti schon immer okay.

Inhalt bestimmt Form:
Was Ralf Thenior nicht bemerkt hat, ist, daß wenn er ein nach-achtundsechziger, postmodernes Jugendphänomen in einem Roman behandeln und erforschen will, damit auch zwangsläufig eine besondere stilistische Form verwenden muß, um diesem nahe zu kommen. Es reicht ganz bestimmt nicht, daß die Sprayer-Szene nur ein Hintergrund ist und Requisiten stellt, um einen konventionellen Detektivroman zu bereichern.
Der Autor muß sich mit zwei verschiedene ästhetischen Konzepten auseinandersetzen, je nachdem, ob er ein Abenteuerbuch schreiben will oder ob durch eine adäquate Beschäftigung mit der Graffiti-Subkultur diese greifbar machen will. Um das Wesen letzterer in einem Buch zum Ausdruck zu bringen, muß der Roman die Form eines post-strukturalistischen Romans annehmen. Und das heißt keine Spannung, keine fortlaufende, abgeschlossene Handlung, keine naturalistische Darstellung, sondern statt dessen ungemütliche Langeweile ohne Erklärungen, nur einzelne Episoden, die nicht unbedingt durch eine zeitliche Abfolge oder eine gemeinsame Geschichte zusammengehalten werden, grelle Beschreibungen und Überzeichnungen.
Denn Krimigeschichte und Sprayerszene verwenden von Grund auf verschiedene Logiken und Denkweisen. In ihren Zeichen verwenden sie unterschiedliche Symbolsysteme, in denen ihre Akteure existieren und kommunizieren. Der Kriminalromen hat seine Wurzeln in der aufgeklärten bürgerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts, während die Graffiti-Kultur Ausdruck des Post-Strukturalismus der Postmoderne ist. Die Orientierungslosigkeit und das Auseinanderbrechen der bürgerlichen Industriegesellschaft bedingen das Phänomen der 'radikalen' Jugendbewegungen wie Punk, Graffiti und die Partykultur des Techno, da muß der Autor einen Symbolwechsel vollziehen, wenn er hier eine Geschichte erzählen will.
Am nächsten kommt Thenior dieser neuen Form in seiner Einleitung, und man sieht, wie er sich rasch und immer ferner davon entfernt, je weiter sein Buch fortschreitet. Die ästhetische Ausdrucksweise der ersten Seiten präsentiert auf ihre Art eine Welt, ihre Deutlichkeit und Direktheit steht unmittelbar in Zusammenhang mit dem Thema. Daß Thenior diese Schreibweise nicht fortgesetzt hat, die im gewissen Sinne durch die Sprachlosigkeit und Wahrnehmungsweisen der Graffiti-Szene charakterisiert ist, ist Grund dafür, daß er scheitert, diese neue Jugendkultur faßbar zu machen.
So bleibt Die Nacht der Sprayer ein konventionelles Buch, das in dieser Hinsicht nur voyeuristische Wünsche des Lesers befriedigt und darüber hinausgehende Irritationen vermeidet.

Taschenbuchausgabe
"[...] »Ich mach dich fertig!«, schreit er.
»Reiß ihm die Eier ab, Wolle!«, brüllt der andere Junge und stürzt sich auf ZANE. Dann hagelt es Schläge.
Stiefel trifft Knie. ROC taumelt. Riesenfaust saust durch die Luft. ZANEs Rippen krachen. Dreckschweine! Hand drückt Gurgel. DASH keucht. Tritt in die Eier. Braune Sau! Ein Stoß. DASH fliegt gegen die Wand. Die Augen des Riesen sind Schlitze. Er schlägt zu. WUMM! Faust gegen die Mauer. Bißchen schneller musste schon sein, Oppa! ZANE ächzt. Hält ihn auf Distanz. Ich polier dir die Fresse! Zane weicht aus [...]"
(Thenior S. 8)
Aus der Eingangssequenz
"[...] Ich hatte meiner Mutter versprochen, mit ihr Abendbrot zu essen. In der letzten Zeit hatte sie sich öfter beklagt, dass wir nicht mehr wie früher zusammen aßen. Deshalb hatte ich versprochen, an diesem Abend pünktlich zu sein.
Hatte mich auch nur 'ne halbe Stunde verspätet. Doch wer sitzt nicht am Küchentisch? Meine Mutter. Sie war zum Essen eingeladen.
Aber sie hatte Tee gemacht und den Tisch für mich gedeckt. Ich schnitt ein großes Stück Salami ab und biss rein. [...]"
(Thenior S. 35)
Aus dem 4. Kapitel
"[...] Wir holten auf. Eins der Mädchen drehte den Kopf, sah uns näher kommen und gab noch mal Stoff. Doch ich war schon neben ihr, packte ihren Arm. Jetzt hatten wir sie!
»Fass mich nicht an!« Sie riss sich los. Die Mädchen verlangsamten ihren Lauf und blieben stehen. Ich stoppte ab. Die Mädchen waren ziemlich außer Atem. Wir auch.
Keuchen standen wir da, musterten uns finster.
Zwei durchtrainierte Mädchen standen uns gegenüber. Mit langen Beinen. Eine war blond. Und hatte blaue Augen. Die andere war dunkelhaarig.
Unser Atem beruhigte sich langsam.
»Was soll der Scheiß?«
»Warum crosst ihr unsere Bilder?« [...]"
(Thenior S. 81)
Aus dem 11. Kapitel
Der Autor Ralf Thenior
"[...] Nick saß direkt neben meinem linken Bein, und mein linkes Bein spürte, dass der ruhige Nick ganz schön rotierte. Nicht nur, weil er auf dem Kamelhocker sitzen musste.
»Eins, zwei, drei, Holli rapt sich frei. Und auch Sax ist dabei! Und eine zwei-te, total berei-te, gänzlich befrei-te, heiße Beglei-tung ...«
»... spielt in die Plei-te, Holli bleibt breit und ... ach, Scheiße!«, sagte Trixi und lachte.
Es war deutlich zu sehen, dass der Wortsalat des rasenden Rappers ihr Spaß machte. Holli versprühte seine Sprüche in der Dachkammer, als hätte er tausend. [...]"
(Thenior S. 107)
Aus dem 15. Kapitel
"[...] Er grinste wie ein Autoverkäufer, der gerade das Modell mit den fünf Airbags und den sich selbst erneuernden Reifen vertickt hat.
Pannek riss meinen Rucksack auf. Es gab mir einen Stich, seine Schweinepfoten drin rumwühlen zu sehen. Die Blicke, die er uns zuwarf, verhießen nichts Gutes. Er zog mein Black Book aus dem Rucksack und hielt es in die Luft.
»Das ist der Zaubertrick«, sagte er. »Das kommt in den Safe. Zur allgemeinen Sicherheit.« Er warf das Buch auf den Tresen.
[...] Pannek kam grinsend auf mich zu.
»Es bleibt alles unter uns. Ich kann sogar deine Schlampe ficken! Du wirst keinen Mucks sagen. Weil ich dein Buch hab. [...]"
(Thenior S. 118)
Aus dem 17. Kapitel
"[...] Straßenbahnen kreischten in den Kurven wie getretene Hunde. Funken sprühten von Stromabnehmern. Wir waren in Amsterdam!
Untergetaucht. Die sagenhaften vier. Holli und Trixi. Leo und ich. Wir sahen Tags, die uns eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Und Bilder, bei denen uns die Augen rausfielen.
Es war heiß in Amsterdam. Der Asphalt kochte. Überall T-Shirts mit Hanfblättern. Grachten. Plateausohlen und tierisch hoch geschlitzte Röcke. Touris mit Kameras. Chinesen auf Fahrrädern. Straßenhändler mit Eiswagen. [...]"
(Thenior S. 151)
Aus dem Epilog
Institut für Jugendbuchforschung der JWG Universität Frankfurt
Kurzbiographie von Ralf Thenior
Über Ralf Theniors literarische 'Methode der Parkbank'
Ralf Thenior beim Sonettverlag fulgura frango
'Die Nacht der Sprayer'-Rezension von Hermina Bikovic (17 Jahre)
Riesige Linksammlung mit Fachinformationen für Germanisten
Axel Thiel: Graffiti Archivist (englisch)
Bildinventar der Graffiti-Forschung
Graffiti Fotos, Links und Lexikon bei hiphop.de
Hamburg Graffiti History - sehr schöne Seite
Literaturliste

Artikel:
(KM): ""Greifer" sind hart und bitter" In: Ruhr-Nachrichten 29.08.1998
RAK, Alexandra: "Ich sprüh's an jede Wand" In: Eselsohr 8/96
SCHIEFER, Manfred: "Die Farbe hält nicht" In: Bulletin Jugend + Literatur 11/1995

Sonstiges:
Ganzseitige Werbung von Ravensburger: "Warum schreiben Sie für Kinder und Jugendliche, Ralf Thenior?" In: Börsenblatt 78/29.9.1995
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH: Informationen für die Presse - Ralf Thenior (Stand März 1996)
Reader für das Hauptseminar "Jugendkultur im aktuellen Jugendroman" von Hans-Heino Ewers (WS 1998/99, Frankfurt)

Internettexte:
WOHLLEBEN, Robert: "Der Leutnant im Tiergarten. Oder: Die Parkbank als literarische Methode" In: http://www.fulgura.de/leutnant.htm [die Seite hatte beim Schreiben der Arbeit eine andere URL]
BIKOVIC, Hermina: "Ralf Thenior: Die Nacht der Sprayer. Rezension von Hermina Bikovic (17 Jahre)" http://gebonn.de/projekte/buecher/rez/thenior/sprayer.htm [die Seite hatte beim Schreiben der Arbeit eine andere URL]

Bemerkungen:
Dieses Referat entstand im Rahmen des Seminars "Jugendkultur im aktuellen Jugendroman" im Wintersemester 1998/99. Diese Veranstaltung fand am Institut für Jugendbuchforschung (Germanistik) an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Geleitet wurde sie von Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, der die vorliegende Arbeit mit "sehr gut" (1) benotete.
B. Reifschneider schloß sein Studium im Mai 2000 mit dem Magister Artium in Theater-, Film- & Medienwissenschaft ab und ist heute Doktorand am Fachbereich Neuere Philologien.
Die Urheber- und Vervielfältigungsrechte für diesen Text bleiben bei dem Autor. Das heißt, daß ohne meine AUSDRÜCKLICHE Genehmigung nichts, auch nicht auszugsweise, vervielfältigt oder wiederveröffentlicht werden darf, weder zu kommerziellen, noch zu unkommerziellen Zwecken. Zitieren nach den allgemein gültigen Standards ist okay, aber es sollte schon eine Autorenangabe oder ein Hinweis dabeistehen, wo das Original zu finden ist.
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Letzte Link- und HTML-Korrektur fand am 1. Januar 2005 statt.
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