|
Biographie
Ralf Thenior:
Ralf Thenior ist Jahrgang 1945. Er wurde in Bad Kudowa (Schlesien)
geboren und wuchs (wegen der Vertreibung seiner Familie) in Hamburg
auf. Er erlernte zunächst den Beruf des Verlagkaufmanns und
"jobbte in den unterschiedlichsten Berufen: als Gärtner,
Maurer und Kellner" (Presseinfomation). Er leistete Zivildienst und
studierte Germanistik im Saarland, wo er schließlich ein
Übersetzer-Studium für Englisch abschloß.
Seit 1969 erscheinen Gedichte und Prosa von Ralf Thenior in
Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk. 1977 erschien
der erste Gedichtband von ihm. Außer Gedichten und Prosa
für Erwachsene verfaßte er auch Radio-Essays und
Hörspiele. 1993 erschienen seine ersten Kinder- und
Jugendromane, die Schloßgespenst-Bände, vor deren
Schreiben er "mehrere Jahre in einem Wasserschloß im
Münsterland verbracht" (Presseinformation) hat.
Für seine Arbeiten erhielt Ralf Thenior verschiedene
Literaturpreise, zuletzt den Literaturpreis Ruhrgebiet 1990 und den
Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 1993.
Bemerkungen
Bemerkungen zu Die Nacht der Sprayer:
Die Nacht der Sprayer erschien 1995 bei der Jungen Reihe im
Ravensburger Buchverlag. 1998 kam es als Taschenbuch in demselben
Verlag in der Reihe "Reality" heraus. Das Lesealter wird auf dem
Umschlag mit "Jugendliche aufwärts" angegeben, ganz nach dem
gegenwärtigen Verhalten der Verlage, bei Jugendbüchern
keine Altersangaben mehr zu machen, um keine potentiellen Leser zu
verschrecken.
Die Nacht der Sprayer ist das zweite Buch von Ralf Theniors
'Dortmund-Triologie'. Das erste davon ist der Satanisten-Roman
Die Fliegen des Beelzebub, 1993; das letzte ist
Greifer von 1998. Diese Bücher spielen alle in
Dortmund, wenngleich auch die Geschichten keinen Zusammenhang haben
und auch nicht die selben Protagonisten benutzen. Über seinen
dritten Roman dieser Art sagt Thenior selbst (und das würde er
sicher auch zu Die Nacht der Sprayer erzählen), "Ein
Buch für jede Altersgruppe, nicht nur für Jugendliche und
junge Erwachsene" (Ruhr-Nachrichten). Auch hier wird die erweiterte
Zielgruppe der neuen Kinder- und Jugendliteratur verdeutlicht;
Thenior hat den Anspruch, daß das Buch ein "realistischer
Roman der ausgehenden 90er Jahre" (Ruhr-Nachrichten) sein soll. Bei
der Taschenbuchausgabe von Die Nacht der Sprayer wird dies
noch unterstrichen durch die Einordnung in die Reihe "Reality".
Der Roman hat ein Glossar mit den Szene-Vokabeln, die in dem Buch
gebraucht werden. Diese Wörter sind im Text fett
hervorgehoben, "so daß keine Erklärungen innerhalb des
Texts den Erzählfluß stören." (Rak) So macht das
Buch ganz direkt deutlich, wie nah es an der Sprache der
jugendlichen Sprayer ist.
Die Geschichte (ohne die Einleitung und den Schluß) hat 21
Kapitel von durchschnittlich 6-7 Seiten Länge und weicht im
Extremfall auch nur wenig davon ab. Anzumerken ist, daß in
der Taschenbuchausgabe das Inhaltsverzeichnis zum Teil mit falschen
Seitenzahlen ausgezeichnet ist.
Das Buch ist nach der "neuen Rechtschreibung" verlegt.
Erzähler usw:
Die Nacht der Sprayer besteht aus einem Prolog, der Geschichte und
einem Epilog. Die gewalttätige Einleitung, die zeitlich etwa
in der Mitte der gesamten Erzählung spielt, soll wohl so etwas
wie ein Preview für den unentschlossenen Jugendlichen sein,
der noch nicht weiß, ob er das Buch kaufen soll oder nicht.
Eine ziemlich unfaire Methode, denn schließlich wiederholt
sich dieser rasante Stil der Eingangssequenz im ganzen Buch nicht
mehr. "Zum Glück" mag man vielleicht auch denken, den immerhin
ist diese Art der Beschreibung auf Dauer nicht sonderlich spannend
oder fesselnd.
Der Rest des Buches hat dann einen Ich-Erzähler, Mike, der die
Geschichte erzählt und eben nur im Vor- und Nachspiel etwas
für einen auktorialen Erzähler zurücktritt. Mit
dieser Art der Erzählweise nimmt sich der Autor scheinbar
zurück und überläßt allein den Jugendlichen
das Wort, er scheint ihre Sprache zu sprechen. Das zeigen schon die
hervorgehobenen Sprayervokabeln und die stellenweise fast schon
vulgäre Sprache, in denen die Protagonisten reden.
Inhalt und Setting
Setting und Charaktere:
Der Roman spielt im heißen Sommer 1994 in Dortmund, wohl kurz
vor den Sommerferien. Hauptprotagonisten sind die
fünfzehnjährigen Mitglieder der 3-D-DNS-Gang DASH, alias
Mike, ZANE a.k.a. Nick und ROC, der eigentlich Holli heißt.
Der Ich-Erzähler ist Mike, der in die neunte Klasse geht
("einmal hocken geblieben") und bei seiner alleinerziehenden Mutter
lebt, die Abteilungsleiterin bei Woolworth ist. Diese weiß
nichts (oder will nichts wissen) von dem Sprayen ihres Sohnes (das
"würde ihr das Herz brechen"). Der Vater von Mike ist vor zehn
Jahren von der Mutter wegen seiner Alkoholprobleme auf die
Straße gesetzt worden. Mike scheint ihn nicht zu vermissen,
allerdings überlegt er einmal, als er einen Penner auf der
Straße sieht, daß dieser sein Vater sein
könnte.
Mike lernt Nick beim Klauen von Edding-Stiften kennen, Nick hat
nämlich auch gerade angefangen, Tags zu kritzeln. Er ist der
Planer der Gruppe, ruhig und bedächtig, ist zuverlässig
und geht kein Risiko ein. Seine Eltern wissen von den illegalen
Aktionen ihres Sprößlings und haben nichts dagegen. Hier
herrscht wohl so etwas wie Unterklassen-Solidarität, denn
Nicks Vater ist arbeitslos, die Familie wird als locker und
tolerant beschrieben. Eine leere Garage bei ihnen dient den drei
Nachwuchssprayern als Hauptquartier, in dem sie sich treffen und
ihre Aktionen planen.
Den dritten im Bunde treffen Mike und Nick, als sie ihre erste
Sprühaktion vorbereiten. So kommt dann der rappende Holli
dazu. Seine Eltern "stehen auf Kultur und Umgangsformen", sie sind
anscheinend wohlhabender, und Holli hat es nicht leicht mit einem
solchen Elternhaus, in dem man selbstverständlich nichts von
Rap oder Graffiti hält.
Die Dortmunder Nordstadt, wo die drei leben, ist den Jungen zu grau
und zu flach, und so beschließen sie, als 'Dreidimensional
Dortmunder Nordstadt' mehr Farbe in ihr Leben zu bringen.
Inhaltsangabe:
Die Einleitung beginnt direkt und actionreich und läßt
schon einen Action-Film wie Karate Kid in Buchform für
den Rest des Romans erwarten. Aber es kommt dann anders, die
Geschichte schwenkt zu einer konventionellen Erzählung von
Mike um, der erzählt, wie sich die Jungen kennengelernt haben
und was sie schon sprühenderweise so gemacht haben. Das ist
natürlich furchtbar langweilig, und so fügt Thenior den
klischeehaften Erziehungsberechtigten noch eine ebenso stereotype
zweite Behinderung hinzu: eine Konkurrenz-Bande mit einem
unsympathischen Anführer, die ebenfalls Wände bemalt.
Auch diese Zutat trägt nur über ein paar weitere Kapitel,
und schließlich beginnt endlich die 'richtige' Geschichte
nach etwa einem Drittel des Buches.
Zu der Zeit, als Holli im Krankenhaus liegt (man erinnere sich an
die gewaltvolle Roman-Einleitung), streifen die beiden anderen
durch die Straßen und entdecken ein Bild von einer dritten
Sprüher-Gang ze-görls. Unserem Chronisten Mike
gefällt spontan der Name der Sprayerin Baby lone, zu recht,
wie sich später herausstellt, denn sie ist die attraktivere
der beiden Graffiti-Aktivistinnen und die beiden werden gegen Ende
auch ein Paar. Nun aber, wie die beiden Jungs abends durch die
Straßen ziehen, bekommen sie mit, wie ein paar finstere
Gestalten eine Katze in einem Hinterhof an einer Stange
aufhängen. Klar retten die beiden den Kater, und Mikes
nächste Bilder sind aufgehängte Katzen. Diese bringen den
Zorn der ze-görls gegen sie ein, aber nachdem man sich mit
ihnen ausgetauscht hat, beginnt Ralf Theniors raffinierte
Hintergrundstory Gestalt anzunehmen:
Der skrupellose Bauunternehmer Pannek will die Mieter aus einem
Haus ekeln, und um eine widerspenstige Oma zur Räson zu
bringen, muß eben ihr Kater Charly dran glauben. Und anstatt
einfach zur Polizei zu gehen und die Machenschaften des kriminellen
Unternehmers aufzudecken, gehen die vereinigten fünf
Nachwuchsdetektive und Graffitikünstler zur Offensive
über und machen sich eines Abends daran, die Baumaschinen des
bösen Katzenmörders mit ihren Sprühdosen zu
beschmieren. Doch dieser blinde Aktionismus geht in die Hose, sie
werden überrascht und Mike und Baby lone fallen Panneks
Schergen in die Hände. Der Ich-Erzähler bekommt dabei
eine große blutende Wunde am Kopf und er und seine Freundin
werden in das Haus von Pannek gebracht, wo sich die Handlung zu
einer angedrohten Vergewaltigung zuspitzt.
Doch bevor es zu einem zünftigen Showdown zwischen Mike und
dem Bauunternehmer kommen kann, kommt die Polizei und die beiden
gefangenen Sprayer werden gerettet - nicht von Kommissar Groove,
sondern Grove, aber immerhin.
So muß Thenior noch einmal sein altes Thema vom
Graffiti-Wettkampf der beiden Gangs aufwärmen, um die letzten
dreißig Seiten zu füllen. Wieder versuchen ze-görls
und 3-D-DNS eine Großaktion, aber ihr Unternehmen, einen
Nahverkehrszug zu verschönern, schlägt fehl und nur mit
Mühe können sie alle den "Bahnbullen" entkommen.
Ganz zum Schluß versucht Thenior - wenig überzeugend -
noch das Thema "Auseinanderleben von besten Freunden" einzubringen,
was ihm aber ganz und gar nicht gelingt. Das sieht wohl der Autor
selbst ein, denn diese Sache nimmt er im allerletzten Kapitel
andeutungsweise wieder zurück und läßt den Leser
auf eine Wiedervereinigung der fünf Dortmunder Teenie-Sprayer
hoffen.
Ergebnis
Sprayer-Szene und Detektivroman:
Ralf Thenior nimmt sich also sehr viel vor, was er in Die Nacht
der Sprayer behandeln möchte. Sein eigentliches Thema, die
Graffiti-Szene, bildet lediglich die Kulisse, in der Thenior eine
eigene Geschichte erzählt. So ist dann auch nicht eine
gekonnte Auseinandersetzung mit der Welt der 'Aerosol-Junkies' der
Hauptgegenstand des Buches, sondern der Autor versucht, mit
Requisiten der Neunziger Jahre eine Geschichte der Fünfziger
Jahre zu erzählen. Warum seine Protagonisten getrieben sind,
Wände zu bemalen, wird nicht sehr deutlich. Zwar wird im
Glossar erwähnt, daß Respekt und Anerkennung innerhalb
der Sprayer-Szene das wichtigste für den Künstler sind,
aber diese 'Sprüher-Bewegung' kommt im Buch außer ein
paar gekauften Exemplaren einer Szene-Zeitschrift nicht vor.
Statt dessen präsentiert Ralf Thenior eine schlichte
Abenteuer-Geschichte, wobei es ihm sichtbar Probleme bereitet,
einen schnellen Einstieg zu finden. Ist dieser aber erst einmal
gefunden, wird aus Die Nacht der Sprayer "ein absolut
konventionelles Detektivbuch mit Sozialtouch." (Schiefer)
Die Gruppe von jugendlichen Ermittlern, die sich einem abgrundtief
bösen und geldgierigen Vermieter entgegenstellen, ist nicht
gerade die neuste Idee. Und so verhindern die fünf
Graffiti-Sprüher, wenn sie nicht gerade nächtens
Sachbeschädigung betreiben, die zweite Vertreibung einer
ehemaligen Ostpreußin und rächen eine tote Katze.
Das Ende der Krimigeschichte nutzt der Autor, um sich wieder der
Faszination der Sprayer zu widmen, aber er wärmt nur das erste
Drittel des Buches noch einmal auf, ohne sich seinem Gegenstand
weiter zu nähern. Und so verfällt Thenior im letzten
Kapitel wieder in seine Lieblingstätigkeit, mit fast schon
lyrischen Worten eine Szenerie einzufangen und zu beschreiben.
Schreibweise von Ralf Thenior:
Warum kommt dieses Resultat heraus? Mit welcher Arbeitsweise geht
der 1945 geborene Autor vor, wenn er eine jugendliche Subkultur der
Achtziger/Neunziger Jahre beschreiben will? Robert Wohlleben
schreibt über Ralf Thenior: "Als er [Ralf Thenior] noch in
Hamburg wohnte, setzte er sich regelmäßig zu den
Rentnern und Arbeitslosen im Park am Eppendorfer Krankenhaus -
Augen und Ohren weit offen. Geraucht hat er auch dabei, wie ich ihn
kenne - und für seine Texte registriert. Das ist die Parkbank
als literarische Methode." (Wohlleben)
Thenior stellt sein Selbstverständnis als Kinder- &
Jugendliteratur-Autor in einer Anzeige des Ravensburger Buchverlags
folgendermaßen vor: "[...] Wie ein Wissenschaftler von einem
anderem Stern geht er durch die Welt. Seine Aufgabe ist es, das
Leben der Erdlinge zu erforschen; wie sie reden, wo sie leben, was
sie mit den Tieren machen usw. [...]" (Anzeige). Aus seinen
Berichten sollen Bücher werden. "Davon lebt der
Schriftsteller" (Anzeige).
Mit weit offenen Augen und Ohren hat sich Thenior seines Themas
angenommen. Er hat beobachtet und registriert und kann die Sprache
und Lebensumstände seiner Helden durchaus akkurat wiedergeben.
"Respekt" würde Mike wahrscheinlich dazu sagen. Der Preis
dafür sind seitenlange Beschreibungen, die der
außerirdische Forscher aufgezeichnet hat, Dialoge, in denen
die Personen auf 'natürliche' Weise miteinander reden, aber
die Handlung nicht vorankommt und das Innenleben der Protagonisten
nur wenig beleuchtet wird. Ralf Thenior sagt über sich selbst:
"Noch immer sind die ersten Leseerfahrungen dem Schriftsteller in
glücklichem Abglanz gegenwärtig und Leitbild." (Anzeige)
Daß damit die frühen fünfziger Jahre gemeint sind,
ist deutlich zu erkennen.
Neugierbefriedingung:
Sicher ist, daß Thenior kein Buch schreiben wollte, das nur
für eingeweihte Sprayer interessant ist. Vielmehr lebt er "von
der Hoffnung, viele Leser zu finden" (Anzeige). Sein Buch ist
gerade für die Leute spannend, die eben nichts mit der
Sprüher-Szene zu tun haben, aber mehr darüber wissen
möchten, die sich vielleicht jeden Tag in der U-Bahn über
die bunten Graffitis wundern. Für eine solche Zielgruppe ist
Die Nacht der Sprayer möglicherweise geeignet, um sich
näher mit diesem Phänomen zu beschäftigen.
Ralf Thenior benutzt hier eine der wichtigsten Funktionen von
Literatur, die nur selten zugegeben wird: Literatur zur
Befriedigung von Neugier. Der Titel und die ganze Aufmachung des
Romans verkünden, daß hier ein Buch ist, welches seine
Geschichte und seine Charaktere in dieser Subkultur ansiedelt, also
einen gefahrlosen Weg bietet, Neugier zu befriedigen und Wissen zu
vermitteln. Die Einleitung scheint das auch gleich zu
bestätigen, hier werden alle herkömmlichen Klischees
über die Sprayer losgelassen: Jungs, die nur schöne
Bilder in der tristen Großstadt machen wollen und keine
Sachbeschädigung; böse Menschen, die schnell
gewalttätig werden und ohne zu fragen zuschlagen, obwohl das
Bild doch legal ist; die exotischen Ausdrücke und Namen der
Sprayer.
Dann ändert sich die Erzählform und die Frage, warum die
Jugendlichen sprayen, wird zwar nicht beantwortet, doch der Leser
erfährt viel über die gebräuchlichsten Fachbegriffe
und einige Graffiti-Styles und die persönlichen
Lebensumstände der Protagonisten. Und hier baut Thenior das
Fremde weiter ab, die Leser erfahren, daß die Sprayer auch
nur ganz normale Menschen sind, mit alltäglichen Problemen in
der Familie, mit der Freundin und der Schule. So verteufelt der
Autor die Sprüher nicht, sondern er will Sympathie wecken
für die drei Jungen, die keine Freundin haben und eben abends
mit ihren Sprühdosen Wände bemalen müssen. In dieser
wohlwollenden Darstellung lernt der Leser tatsächlich wenig
über die Hintergründe, Thenior 'ent-exotiiert' hier die
Szene und bemerkt dabei wichtige Punkte nicht.
Zwar wird die Verbindung zu der schwarzen Ghetto-Musik Hip-Hop
durch den rappenden Holli leicht angedeutet, doch der politische
Anspruch von Rap und Graffiti fehlt völlig. Für Thenior
und seine Protagonisten erübrigt sich das Sprayen, sobald sie
eine feste Zweierbeziehung gefunden haben. Ab diesem Moment sind
sie dann auch nur noch Betrachter, die über Graffitis
fachsimpeln, aber keine Bilder mehr machen. Sie sind so in der Tat
Touristen geworden und ihre Eltern können sich freuen,
daß ihre Söhne den letzten Makel der Illegalität
verloren haben. Mike und Holli werden so wie ihre braven Eltern und
der einzige, der mit dem Sprühen nicht aufhören kann, ist
Nick, der leider keine Freundin gefunden hat, aber dessen Eltern
fanden ja Graffiti schon immer okay.
Inhalt bestimmt Form:
Was Ralf Thenior nicht bemerkt hat, ist, daß wenn er ein
nach-achtundsechziger, postmodernes Jugendphänomen in einem
Roman behandeln und erforschen will, damit auch zwangsläufig
eine besondere stilistische Form verwenden muß, um diesem
nahe zu kommen. Es reicht ganz bestimmt nicht, daß die
Sprayer-Szene nur ein Hintergrund ist und Requisiten stellt, um
einen konventionellen Detektivroman zu bereichern.
Der Autor muß sich mit zwei verschiedene ästhetischen
Konzepten auseinandersetzen, je nachdem, ob er ein Abenteuerbuch
schreiben will oder ob durch eine adäquate Beschäftigung
mit der Graffiti-Subkultur diese greifbar machen will. Um das Wesen
letzterer in einem Buch zum Ausdruck zu bringen, muß der
Roman die Form eines post-strukturalistischen Romans annehmen. Und
das heißt keine Spannung, keine fortlaufende, abgeschlossene
Handlung, keine naturalistische Darstellung, sondern statt dessen
ungemütliche Langeweile ohne Erklärungen, nur einzelne
Episoden, die nicht unbedingt durch eine zeitliche Abfolge oder
eine gemeinsame Geschichte zusammengehalten werden, grelle
Beschreibungen und Überzeichnungen.
Denn Krimigeschichte und Sprayerszene verwenden von Grund auf
verschiedene Logiken und Denkweisen. In ihren Zeichen verwenden sie
unterschiedliche Symbolsysteme, in denen ihre Akteure existieren
und kommunizieren. Der Kriminalromen hat seine Wurzeln in der
aufgeklärten bürgerlichen Welt des 18. und 19.
Jahrhunderts, während die Graffiti-Kultur Ausdruck des
Post-Strukturalismus der Postmoderne ist. Die
Orientierungslosigkeit und das Auseinanderbrechen der
bürgerlichen Industriegesellschaft bedingen das Phänomen
der 'radikalen' Jugendbewegungen wie Punk, Graffiti und die
Partykultur des Techno, da muß der Autor einen Symbolwechsel
vollziehen, wenn er hier eine Geschichte erzählen will.
Am nächsten kommt Thenior dieser neuen Form in seiner
Einleitung, und man sieht, wie er sich rasch und immer ferner davon
entfernt, je weiter sein Buch fortschreitet. Die ästhetische
Ausdrucksweise der ersten Seiten präsentiert auf ihre Art eine
Welt, ihre Deutlichkeit und Direktheit steht unmittelbar in
Zusammenhang mit dem Thema. Daß Thenior diese Schreibweise
nicht fortgesetzt hat, die im gewissen Sinne durch die
Sprachlosigkeit und Wahrnehmungsweisen der Graffiti-Szene
charakterisiert ist, ist Grund dafür, daß er scheitert,
diese neue Jugendkultur faßbar zu machen.
So bleibt Die Nacht der Sprayer ein konventionelles Buch,
das in dieser Hinsicht nur voyeuristische Wünsche des Lesers
befriedigt und darüber hinausgehende Irritationen
vermeidet.
|
|