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1.0 - Einführung
1.1 - Entnazifizierung in Westdeutschland:
"Eine offene und vorurteilslose Auseinandersetzung mit Ursachen,
Ergebnissen und Schuld des Nationalsozialismus stieß dagegen
bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung auf
vielfältige Widerstände. Die wesentlich von außen
an die Deutschen herangetragene Entnazifizierung erwies sich dabei
nicht (wie auch die Maßnahmen der 'Reeducation') als
geeignetes Mittel, die Masse der Bevölkerung zum aktiven
Engagement für eine freiheitlich-demokratische Ordnung zu
motivieren." Diese beiden Sätze aus dem Meyer Lexikon von 1990
(unter dem Stichwort "Nationalsozialismus") werfen sofort die Frage
auf, wie denn dann die deutsche Bevölkerung für die
freiheitlich-demokratische Ordnung motiviert wurde und wie der
nationalsozialistische Geist in den deutschen Köpfen beseitigt
wurde. 1945 war von den Siegermächten in Jalta und Potsdam
beschlossen worden, Maßnahmen zu ergreifen, die Personen mit
NS-Vergangenheit von Schlüsselstellungen in der Gesellschaft
ausschließen. Mit unterschiedlicher Intensität in den
einzelnen Besatzungszonen durchgeführt, wurden Beschuldigte in
5 Kategorien eingeteilt: Hauptschuldiger, Belastete/Aktivisten,
Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. In der Praxis sah
es jedoch so aus, daß sich die Spruchkammern
hauptsächlich mit Bagatellfällen beschäftigten und
diese meistens zu einem entlastenden Abschluß brachten (u. a.
aufgrund sog. 'Persilscheine'). Die wichtigeren Beschuldigten
profitierten dagegen von der Verzögerung ihrer Verfahren bis
in die Zeit des Kalten Krieges nach 1948, ab 1949 verlor die
Entnazifizierung rasch an Bedeutung. Gerade die in Frage kommenden
Personen in höheren Stellungen waren wichtig für die
Verwaltung und Wirtschaft des westlichen Besatzungsteils
Deutschlands und entgingen durch die zeitliche Verzögerung
einer konsequenten Verfolgung. Neben diesen Fakten dient diese
Anfangsfrage nach einer Kontinuität von der NS-Zeit in die BRD
dazu, die Betrachtung des Films Nicht versöhnt von
J.-M. Straub und D. Huillet unter diesem Gesichtspunkt zu
ermöglichen.
2.0 - Darstellung
der inhaltlichen Ebene
2.1 - Kontinuität der Verantwortlichen:
Ohne auf die genauen Umstände einzugehen zeigt der Film ganz
ausdrücklich die Kontinuität von Verantwortlichen in der
NS-Zeit. Personen, die unter dem NS-Regime Macht über andere
hatten, haben in der BRD nichts davon verloren. Aus dem
überzeugten Nazi und Sportlehrer Vacano ist der
Polizeipräsident geworden. Er, der Übergriffe seiner
Schüler auf andere zuließ, bekleidet jetzt einen hohen
Posten in der Exekutive unter einer freiheitlich-demokratischen
Verfassung. Doch das ist nicht das einzige Beispiel für einen
'Wendehals' im Nachkriegsdeutschland. Nettlinger, ein Schulkamerad
von Robert Fähmel und Schrella, war für die
Mißhandlungen mitverantwortlich und hatte die drei nach dem
mißglückten Attentat auf Vacano denunziert, was die
Hinrichtung von Ferdi und die Flucht der beiden anderen zur Folge
hatte. Inzwischen ist Nettlinger "Ministerialrat, -direktor oder
-dirigent" (Presseheft) geworden und behauptet zwar, Demokrat zu
sein, jedoch erscheint diese Überzeugung nur bis zum
nächsten Systemwechsel anzuhalten. Er steht für die
vielen Mitläufer und Helfer des NS-Systems, die schnell ihren
Platz als Verteidiger und Helfer der Demokratie eingenommen haben
und dank ihrer Gewissenlosigkeit schnell Karriere machen konnten.
Die 'Nettlingers' stellen das Gros der Vertreter des BRD-Systems da
und repäsentieren den heuchlerischen Charakter und die
Schizophrenie der Bundesrepublik. Selbst überzeugt von ihrer
Gesinnung, meinen sie eine moralische Größe zu haben,
alle nicht so opportunistischen Menschen im Namen des neuen Systems
zu verurteilen, anstatt sich auf eine Konfrontation oder eine
Diskussion einzulassen. Die Personen, die erfolglos und wenig
konsequent gegen die opppressiven Systeme (Kaiserreich, NS)
aufbegehrten, hängen mit ihrer Resignation in der
Vergangenheit fest und nehmen gar nicht mehr die Gegenwart als
gegenwärtig und formbar wahr. Die Opportunisten haben jeden
scheinbaren Bruch verkraftet und leben und bestimmen die Gegenwart
und die Realität, Nettlinger bewegt sich im Film frei und
uneingeschränkt in der Stadt herum, während die anderen
in geschlossenen Räumen mit ihren Erinnerungen festhängen
und resigniert haben.
2.2 - Lethargie der Leute mit den 'right ideas':
Diese Lethargie der Leute, die sich nicht jedem System ohne
Nachzudenken unterordnen, ist bezeichnend für fast alle
anderen Hauptfiguren, besonders für die drei
Fähmel-Architeken, die näher betrachtet werden. Jeder der
drei männlichen Fähmel-Protagonisten kam als junger Mann
in Konflikt mit dem herrschenden oppressiven System. Heinrich teilt
die Gedanken seiner Frau, daß der Kaiser ein Narr sei und
schuld sei am Tod ihrer Verwandten, doch wagt er es nicht, nach
außen hin etwas zu äußern, als Johanna vor das
Ehrengericht kommt und fügt sich statt dessen widerstandslos
in das System ein, für das er seine Kenntnisse in anderen
Aufgaben einsetzen soll ("Kasernenbau. Festungsbau. Lazarette.").
Sein Sohn Robert geht da schon ein Stückchen weiter, als
Mitglied der "Lämmer-Sekte" ist er mindestens indirekt an dem
Mordanschlag auf Vacano beteiligt, das Mißglücken zwingt
ihn dazu, seine Familie zu verlassen und mit Schrella nach Holland
zu fliehen. Doch Roberts Familie bewirkt eine Amnestie und er kann
nach zwei Jahren Exil nach Deutschland zurückkehren und ordnet
sich dem NS-Regime unter. Später setzt er im 2. Weltkrieg
seine Fähigkeiten ebenfalls ein, um dem Militär bei der
Ausführung der Führerbefehle zu helfen. Joseph, der
jüngste, hat noch nicht endgültig entschieden, was er
will und was er machen möchte, bei ihm ist der Konflikt noch
wach und noch nicht entschieden. Die Tatsache, daß sein Vater
die Zerstörung des Werks seines Großvaters vornahm,
führt dazu, daß er sich gegen den traditionellen Weg in
seiner Sippe entscheidet und nicht Architekt wird. Ob er diese
Entscheidung revidieren wird und ob er sich trotzdem dem BRD-System
unterordnet, wird die Zukunft zeigen. "The dilemma here is the same
as in the novel: what role can the younger generation play if its
progenitors already stand for both terrorism and respectability?
[...] As Joseph gives his inconclusive desciption of his father,
the camera tracks backward to keep Joseph and Marianne in a close
shot as they walk toward the camera along empty railroad tracks and
power lines, a setting that could even suggest death, as Straub
noted." (Byg S.106) Schrella ist ebenfalls ein Charakter, den die
bestehenden Zustände nicht mehr in eine aktive Opposition
treiben. Für etwa 20 Jahre im Exil gelebt, ist auch er von
einer Passivität befallen, als er mit der Realität der
Bundesrepublik konfrontiert wird. Er ordnet sich zwar nicht unter,
aber seine Verweigerungshaltung bewirkt wenig bei der Gestaltung
der Gegenwart und der Zukunft.
Aber was ist die Ursache dafür, daß diese Personen in
der Vergangenheit resigniert haben und nichts weiter unternehmen,
um auf das Hier und Heute zu wirken? Jean-Marie Straub sagt in
einem Interview 1970: "I was pleased to be able to make a film
about the middle-class family which acquires political
consciousness, although to a limited degree as they are
middle-class and hence can only acquire a limited consciousness."
(Signs of life) Das beschränkte Bewußtsein für
politische und gesellschaftliche Zusammenhänge ist also
verantwortlich dafür, daß die Realität zum Teil
durchschaut wird, jedoch nicht vollständig erfasst werden kann
und das Scheitern die Folge ist. Dieses Schicksal führt dazu,
daß sich ihr Widerstand nur unbeholfen äußern kann
und nichts bewirkt. Mit der beschränkten Systemanalyse geht
die Einsicht einher, selbst so großen Beschränkungen von
seitens des Systems zu unterliegen, daß ein Aufbegehren gar
nicht in Betracht gezogen wird. Die einzige Möglichkeit,
effektiven Widerstand zu leisten, erfährt man im Untertitel
des Films, nämlich durch effektive Gegengewalt, jedoch geht
die Einsicht der Protagonisten nicht so weit. Auch das
Bombenattentat gegen Vacano war wenig geplant und schlecht
durchgeführt, die mangelhafte Konstruktion der Bombe
führte dazu, daß diese nicht tödlich wirken
konnte.
Diese Inkonsequenz und Inkompetenz führt dazu, daß die
Betroffenen nicht versöhnt sind mit der Gegenwart. Sie sind
"incapable of action, though they have the right ideas: they have
been so traumatized that they have become resigned. Not reconciled,
perhaps, but resigned" (Signs of life). Sie haben ihre frühere
Schwäche nicht überwunden und sind zwar nicht gebrochen,
allerdings verzichten sie auf ihre 'political consciousness', und
sehen nicht, daß die äußere Befreiung von dem
Nationalsozialismus die Kontinuität in den Köpfen nicht
gebrochen hat. Nicht versöhnt zeigt die Realität
der BRD, "what has become of a country that did not liberate itself
from fascism, but where the liberation came from outside or what
has become of a country where there has not been a revolution",
sagt Straub im Interview 1970 über seinen Film, "[...] and
that there is this continuity". (Signs of life)
2.3 - Umgang mit Widerstandskämfern:
Neben vielem anderen ist der Film auch eine kleine Episode
über den Umgang mit Widerstandskämpfern im
Nachkriegsdeutschland. Außer Robert und Nettlinger kann sich
keiner an den heimkehrenden Schrella erinnern. Selbst in der
Straße, in der seine Familie gelebt hat, antwortet ein
kleines Kind, daß diese niemals hier gelebt hat. Das kleine
Mädchen, das sicherlich nur im Nachkriegs-Deutschland
aufgewachsen ist, und damit unwissend und unschuldig an der
Vergangenheit und der Kontinuität ist, steht für die neue
Generation, die nach Joseph (Roberts Sohn) geboren ist und für
die keinerlei Reflektion in der BRD-Geschichte möglich ist und
die nur das unehrliche Gegenwartsbild kennt. "In the novel, the
child suggests that someone else may know the Schrellas, but the
film lets the word "never" from the mouth of a small child resonate
in all its ironic finality" (Byg S.107) Schrella ist Vergangenheit
und paßt nicht in das wiederaufgebaute Deutschland.
Schrella erfährt keine Hilfe, sondern wird statt dessen
festgenommen, weil sein Name noch auf alten Fahndungslisten wegen
Mordversuch steht. 'Befreit' wird er von seinem früheren
Peiniger Nettlinger, der sich überaus freundlich und
hilfsbereit zeigt. Vielleicht wittert Nettlinger die Chance, seine
Gesinnung unter Beweis zu stellen und damit noch untrennbarer mit
dem "freiheitlich-demokratischen" System zu verschmelzen; es ist
unglaubwürdig, daß die Hilfsangebote an Schrella so
altruistisch sind, wie sie klingen mögen. Vielleicht
spürt er, daß ein Anbiedern an einen ehemaligen
Widerstandskämpfer jetzt so vorteilhaft sein könnte, wie
es früher die hilfspolizeilichem Aktionen für Vacano
waren. Schrella ist nur ein Symbol, eine Legitimation für das
bestehende System der Bundesrepublik, welches dessen moralische und
ethische Überlegenheit gegenüber dem brutalen
Wilhelminismus und Nazismus bescheinigt und folglich einen
Neuanfang ohne Kontinuität vorgibt. Die wahren
Bedürfnisse und Absichten der Opfer und Widerständler des
NS-Systems werden verkannt, zugunsten einer Instrumentalisierung,
die Frage nach Realität in der zeitgenössischen
Gesellschaft und Politik wird peinlich vermieden.
2.4 - Aufbau-Zerstörung-Wiederaufbau:
Einer der Handlungsstränge, die sich durch den Film ziehen,
besteht darin, daß die drei männlichen Protagonisten der
Fähmel-Familie Architeken sind. In dieser Rolle gewinnt der
Großvater Heinrich die Ausschreibung für den Entwurf
einer Benediktiner-Abtei, die unter dem Namen Sankt Anton im
Kissatal errichtet werden soll. Sein Sohn Robert zerstört als
Sprengmeister der Wehrmacht diese Arbeit, um einer deutschen Armee
ihr Schußfeld auf eine amerikanische Armee zu geben. Freilich
mag auch dieser Akt nicht die Geschichte ändern, so daß
der Enkel Joseph als angehender Architekt 1956 an dem Wiederaufbau
eingesetzt werden soll. Damit macht Straub "die persönliche
Geschichte dreier Generationen der Familie Fähmel zur Parabel
für den Verlauf der deutschen Geschichte überhaupt"
(Wagner S.47). Es entsteht ein kontinuierlicher Zyklus von Schaffen
und Zerstören, der nicht in einem Neuanfang endet, sondern in
eine Wiederholung der Geschichte mündet. So werden
unterschwellig die Strukturen der vergangenen Systeme in das neue
eingearbeitet, der Bruch fehlt völlig. Geschichte wird zu
einem immer wiederkehrenden Zustand, trotz der Zerstörung
bleibt das Alte erhalten und ist sowohl Geschichte wie auch
Gegenwart. Der Enkel Joseph, der als einziger "ein Bewußtsein
für die starren Verhältnisse zu entwickeln scheint"
(Wagner S.48), beschließt, nachdem er die Rolle seines Vaters
bei der Vernichtung von Sankt Anton erfahren hat, kein Architekt zu
werden und das Angebot der Mitarbeit am Wiederaufbau abzulehnen. Er
betrachtet zusammen mit seiner Verlobten, zur selben Zeit wie seine
Großmutter auf den Politiker schießt, römische
Fundamente, die unter den Ruinen der Abtei entdeckt worden sind. Es
gibt also eine Geschichte vor der Geschichte. Der Zyklus der
Kontinuität besteht also nicht seit Anfang der Geschichte,
sondern diese kann sich ändern und in neue Bahnen gelenkt
werden, wenn das Bestehende (das Römische Reich, die
Realität der BRD) mit Gewalt beseitigt wird. Diese
Erkenntnis mögen Johanna und Joseph in diesem Moment erfahren,
sie verbindet sie beide über die örtliche Trennung der
beiden hinweg, schließlich geht es um Josephs Zukunft, die
entweder wieder das Alte sein kann oder neu geschaffen wird.
3.0 - Darstellung der
filmischen Ebene
3.1 - Keine Rückblenden:
Straub und Huillet verwenden keine Rückblenden in ihrem Film,
statt dessen wird immer, wenn eine Sequenz in der Vergangenheit
spielt, sie gezeigt, wie sie sich zugetragen hat. Derselbe Stil wie
bei den narrativen Szenen, die in der BRD-Gegenwart spielen, kommt
zum Einsatz. Dadurch, daß keine Rückblenden vorkommen,
besteht die Vergangenhiet mindestens gleichberechtigt neben der
Gegenwart, sie ist nicht vergangene Realität, sondern alles
ist aktuelle Realität. "Nicht versöhnt [...]
thematisiert [...] die Kontinuität von Unterdrückungs-
und Gewaltstrukturen in der deutschen (später bundesdeutschen)
Geschichte: Strukturen, die bereits angelegt sind in der
militaristisch geprägten wilhelminischen Gesellschaft, die
gestärkt werden durch die ziellose Weimarer Republik" (Wagner
S.48). Kontinuität erwächst aus den Bildern der
Vergangenheit und Gegenwart, da keine auffälligen
Einbrüche in der Erzählweise auftreten. Die Strukturen
der Unterdrückung, die Orte, die Personen und die
Geschehnisse, sind nicht vergessen oder weit weg und auch nicht
Biographie der Protagonisten, sie sind ein Teil des Gewebes, das
die zeitgenössische Wirklichkeit ist. Für Byg ist dieses
Filmmerkmal 'Keine-Rückblenden' etwas anderes. Die Episoden,
die in der Kaiserzeit, im Nationalsozialismus usw. spielen, sind
die abstrakten Erinnerungen an die Ereignisse damals. So
läßt sich erklären, warum die Personen in diesen
Einstellungen immer so emotionslos und teilnahmslos wirken, z. B.
Robert beim Schlagballspiel. Denn die Erinnerungen von Robert
bestehen nur aus Linien und Formeln, nicht Gefühlen. Das sagt
der Film jedoch nicht, sondern er zeigt die Linien und Bilder, die
Roberts Erinnerung sind (Byg S.103: "Instead of being told that
Robert's memory consists of lines and formulas, not feelings, the
audience only sees the lines and images that Robert
remembers.").
Dieses Konzept ist nicht weniger ergiebig unter dem Gesichtspunkt
der Kontinuität, es zeigt stärker die individuelle
psychologische Verfassung des einzelnen, die jedoch für die
Geisteshaltung von sehr vielen Menschen steht, die im Großen
und Ganzen so mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind, wie es
Robert getan hat. Für ihn ist die Vergangenheit viel wichtiger
als das Heutige, im Film sieht Byg das in dem Moment, als die
Erzählung mit der Schlagballszene beginnt, während davor
nur ganz kurz Robert mit Hugo im Billiardraum gezeigt werden. ("The
superiority of the past over the present is established by the fact
that the narrative begins here, in the past, with the voice-over of
Robert", Byg S.103) Durch die Übermacht des Vergangenen ist es
Robert nicht möglich, seine Möglichkeiten in der
Gegenwart zu sehen. ("By eliminating the authorial commentary and
restricting the length of the film shots in accordance with the
laconic speech of the novel, the film makes it shockingly clear,
that the past is tremendously more important for Robert than the
present", Byg S.103)
Kontinuität kann man demnach dadurch erkennen, wer in der
Vergangenheit 'lebt' und wer in der Gegenwart. Personen, die klar
als in der Jetzt-Zeit verankert sind, sind Hugo (der Page) und vor
allem Nettlinger.
Byg zeigt an dem Beispiel, wie Hugo einen Cognac holt, wie er im
Kontrast zu Robert in das Hier und Jetzt paßt: "There is a
clear sense of location, visual narrative progression, no
voice-over. With Hugo we are in the present." Diesen Eindruck
vergleicht er mit der Ankunft von Nettlinger im Hotel: "Here we
have the same clues for assuming present tense and continuous time,
and even the setting of the hotel can be easily assumed based on
this continuity and the rhythmic link to Hugo's scene" (Byg
S.104).
Der Unterdrücker von früher ist heute immer noch Teil der
Gegenwart, er und andere leben und agieren und gestalten,
während die Leute mit den 'right ideas' resigniert haben.
3.2 - Nüchterne Bilder:
Ein weiteres Merkmal, das bei Nicht Versöhnt
auffällt, sind die nüchternen Bilder, die sehr
schnörkellos und spartanisch wirken. Einerseits hat dies
sicher den Grund, daß der Film mit sehr bescheidenen
finanziellen Mitteln gedreht wurde (117.000 DM) und man sich daher
keine aufwendigen und komplizierten Kulissen leisten konnte,
andererseits steht hinter dieser Inszenierung auch eine Absicht.
Straub sagt über seinen Film: "genauso wie er ist, würde
mein Film auch sein, wenn ich sieben Millionen zur Verfügung
gehabt hätte." (Pressehefte S.1) Trotzdem wird dieses Thema
meistens mit pauschalen und wenig differenzierten Beobachtungen
abgehandelt: "Jene Starre und Elegie, die Nicht
versöhnt als spröder Redefilm und durch die sparsame
visuelle Inszenierung vermittelt, steht als filmsprachliche Chiffre
für das alte, starre System, für die festgefahrenen
politischen und gesellschaftlichen Bahnen, in denen sich die
Menschen in der Gegenwart, der Bundesrepublik Anfang der 60er Jahre
bewegen." (Wagner S.54)
Dabei bleibt unberücksichtigt, daß die Bilder voll sind
mit Symbolen wie Türen, Fenster, diagonalen Linien,
Räumen und Flächen, diese Zeichensprache muß viel
genauer analysiert werden, wie Byg es zum Beipiel tut (vgl Byg
S.104f).
Straubs frühere Filme waren Dokumentarfilme. Nicht
versöhnt hat einen stark dokumentarischen Stil, der den
Anspruch zu haben scheint, einfach die Wirklichkeit unkommentiert
aufzuzeichnen. Doch gerade dadurch, daß lange, undynamische
Einstellungen verwendet werden, weckt der Film Unbehagen. Nichts
lenkt von den ungeheuerlichen Tatsachen und Handlungen ab. Henry
Chapier wird in dem Presseheft zu dem Film zitiert: "Es genügt
zu wissen, daß es sich um eine Art Psycho-Analyse des
Nachkriegsdeutschlands, das sich aus schlechtem Gewissen und guten
Absichten zusammensetzt, handelt, und das jämmerlich im
Schlamm seiner Schizophrenie herumpaddelt." (Presseheft) Und das
gelingt Straubt meisterhaft mit dieser Form der Inszenierung. Die
eindringliche Ambivalenz zwischen den Aktionen und Tatsachen und
dem gezeigten Bild und Ton läßt die gezeigte
Kontinuität als alltägliche Realität und noch
unfaßbarer dastehen, so daß der Zuschauer "(zum
erstenmal im Kino) unmittelbar das Wesen einer Situation erfasst.
Weil alles Unwesentliches von der Handlung abgefallen ist, weil er
sie sozusagen nackt sieht." (R. Thome im Presseheft) Und nicht nur
die Situation wird erkannt, sondern die gesamte Realität von
Gleichgültigkeit und Heuchelei, Unterordnen und
Selbstbewußtsein.
"Die Kamera wird benutzt wie ein eiskaltes Instrument, das die
Nervenpunkte von Wirklichkeiten bloßzulegen hat", schreibt
"Die Andere Zeitung" am 21.4.1966. Eine gewohntere Inszenierung und
Darstellungsweise würde bei diesem Instrument nur stören
und es stumpf machen.
Das Konzept des Originaltons verfolgt die gleiche Absicht. Die
ansonsten übliche Nachvertonung wird durch Originalaufnahmen
der Schauspieler ersetzt. Dadurch fällt es dem deutschen
Zuschauer bisweilen schwer, den Dialogen zu folgen, ein Problem,
welches mit Untertiteln versehene Kopien nicht haben und daher im
Ausland auf keine derartigen Schwierigkeiten stoßen. Im
Gegenteil, so behält der Film den natürlichen Rhythmus
der Sprache bei, die einzelnen Worte treten zurück zugunsten
der Sprechmelodie, ein Umstand den nicht-deutschsprachige Zuschauer
positiv, deutsche aber entsetzt und mit Verständnisproblemen
aufnehmen. Lerchenthal beschreibt die Sprechweise der Darsteller:
"Ihre eigenartig wirkende Sprechweise - sie scheint uns
eintönig, fast fremd - entspricht der Sprache, wie sie um uns,
in unserem Alltag gesprochen wird, und nicht auf der Bühne und
Film." (Die Andere Zeitung) Wieder ein weiteres Moment, mit dem
Straub und Huilett Dokumentareigenschaft beschwören. Der
Zuschauer hat Probleme, den Dialog zu verstehen, aber damit will
ihn Straub/Huilett nicht in Versuchung führen, zu denken, wenn
man diesen verstünde, hätte man schon den Film
verstanden. Statt dessen ermöglicht der Gesamteindruck von
Bild, Ton und Handlung erst das Verstehen, daß die
ungebrochene Kontinuität der NS-Ideologie und deren Vertreter,
wie die nüchternen Bilder und die alltägliche Sprache,
eine schlichte Tatsache ist.
3.3 - Filmsprachliche Kontinuität:
Das dokumentarische Element des Films beschreibt auch einfach die
Umwelt, in der die Handlung spielt. Bis auf wenige Ausnahmen (die
Liftfaßsäule etc.), "the look of the film remains
contemporary: telephones, hotels, billiard tables, and teacups have
not changed; a Mercedes is still a Mercedes. And one must ask what
it takes to preseve the smooth appearance of such continuity." (Byg
S.116) Denn während Menschen im Verlauf der Geschichte sterben
und politische Systeme wechseln, bleiben die großen Konzerne
unbeschädigt und gehen aus dem Faschismus gestärkt hevor.
Die sanfte Kontinuiät, das sogenannte Wirtschaftswunder,
brachte der BRD Wohlstand, die Menschen hatten daher kein
Interesse, die Verbindung zwischen ihrem System und dem
Nationalsozialismus freizulegen. Andere Filme legen Wert darauf,
Spannung zu erzeugen, wenn es um die Versuche von Personen mit
NS-Vergangenheit geht (und dazu zählt Robert), diese zu
verdecken. Nicht Versöhnt tut dies nicht, "there is now
need to build up the suspense of Robert's obessive routine to hide
from the past. The film merely reminds the viewer that any
contemporary could have a past such as Nettlinger's, Robert's, or
Erika Progulske's." (Byg S.116) Der Film verdeutlicht die
Alltäglichkeit der Kontinuität, die in jedem Zeitgenossen
in den Sechzigern existieren kann. Dieselbe Offenheit legt der
General in Machorka Muff an den Tag, der ebenfalls seine
Taten für das Nazi-Militär nicht verschweigt. Doch
trotzdem scheinen die Protagonisten in beiden Filmen mit ihrer
Vergangenheit starke unbewußte Probleme zu haben. "In beiden
Filmen bestellen die Menschen unentwegt zu essen und zu trinken und
reden davon. Man hat den Eindruck, als wollten sie damit eine Angst
beschwören" (Süddeutsche Zeitung, 26.8.1971) Diese
unbestimmbare Angst, die zu einer Lebensbeeinträchtigung oder
-bedrohung führen könnte, kann nicht benannt werden. Aber
dadurch, daß die Protagonisten einen großen Teil ihrer
dargestellten Handlung beim Essen und Trinken verbringen, zeigt,
daß dieser unbewußte Druck auf ihnen stark genug ist,
um ihre willens- und verstandesgemäße Kontrolle zu
beeinflußen. Und deshalb mißlingt es ihnen, die
Kontinuität von gesellschaftlichen Strukturen zu erkennen, in
denen sie leben. Somit ist keiner von ihnen wirklich frei, sondern
ihre Handlungen und Aktionen vollziehen sich immer in diesem System
von Strukturen, keiner ist wirklich befähigt, daraus
auszubrechen, sie haben noch nicht einmal die Wahl, wie sie in das
System passen, ob als 'das System' und Macher (wie Nettlinger) oder
untergeordnet und resigniert (wie Robert), aber in beiden
Fällen sind sie eingeschlossen und gefangen in Konventionen,
die sie nicht bestimmt haben.
4.0 - Lösungsvorschlag
im Film
4.1 - Rolle der Johanna:
Die einzige Person, die aus dem Schema, in dem die anderen handeln,
herausfällt, ist Johanna, die Frau von Heinrich Fähmel.
Im Film erzählt sie von der Vergangenheit ohne voice-over, sie
erzählt in ihrer Verwirrung Erlebnisse und Entscheidungen, die
in der Vergangenheit stattfanden, jedoch lebt sie in diesem Moment
wirklich im Gestern, und nimmt diese Zeit als Realität wahr.
Das ist es, was sie den anderen Charakteren überlegen macht,
"old Johanna is slightly schizophrenic, locked into the past; but
she is nevertheless the most conscious of them all, perhaps because
she is the most aware that past and present are one." (Signs of
life) Nachdem sie durch den Spiegel (Einstellung 137, vgl. Byg
S.110) wieder ins Leben zurückgekehrt ist, ist sie in ihrer
Bewegung auch nicht mehr wie die anderen Protagonisten
eingeschränkt. In langen Einstellungen sieht man, wie sie
ihren Befreiungsschlag vorbereitet, während die anderen
"associated with closed doors and restricted motion" (Byg S.109)
sind. "Stasis becomes motion, darkness becomes light" (Byg S.114),
ihr Schuß auf den Minister vom Balkon aus ist der eindeutige
Höhepunkt des Films. Dadurch, daß sie die strukturelle
und personelle Kontinuität der Gewalt in der Realität
erkennt, sieht sie auch die einzige Lösungsmöglichkeit.
Wie schon bei ihrem Kommentar zum Bombenanschlag im Jahr 1935, wie
sie es richtig gemacht hätte, zeigt ihren
Lösungsvorschlag. Der Untertitel von Nicht
Versöhnt, "es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht" soll
das Mittel sein, mit der man die Wirklichkeit ändern kann.
Johannnas individueller Widerstand ist konsequenter als die
unbeholfenen Versuche der anderen, Einfluß auf die
Realität zu nehmen. Aber der Film macht auch klar, daß
diese Konsequenz einen Entwicklungsweg beschritten hat. Anfang des
1. Weltkrieges hatte Johanna nur verbale Kritik an den
Entscheidungen des Kaisers geäußert, mit dem Ergebnis,
daß sie für verrückt erklärt wurde. Ihr Mann
Heinrich war zwar ihrer Meinung, jedoch wagte er es damals nicht,
ihr beizustehen. Im Dritten Reich muß sie zusehen, wie die
Lämmersekte (und ihr Sohn Robert) mit ihrem Bombenanschlag
gegen einen Repräsentanten des NS-Regimes aufbegehrt, aber
scheitert. Aber sie resigniert nicht, nachdem sie erkennt,
daß sich bis in die Bundesrepublik eine Kontinuität der
Gewalt und der Unterdrückung zieht, führt sie ihr
Attentat aus. Und diesmal bekommt sie Rat und Unterstützung
von Heinrich. Für einen Moment bricht die Familie aus ihrer
Resignation aus und Bewegung passiert: "The camera moves, Heinrich
moves, the decision is made, the action occurs all in real time and
space." (Byg S.114) Nicht Versöhnt suggeriert noch ein
anderes Ziel als den Politiker M.: während man Johanna auf dem
Balkon stehen sieht, wie sie ihren Arm ausstreckt und
schießt, sieht man nicht ihr Ziel. Man hört den
Schuß, aber im Bild befindet sich die Abtei, die für
drei Generationen Fähmels und ihr Unterordnen steht. Johannas
Ausbruch ist auch ein emotionaler Ausbruch. In dem Robert "has
[...] to keep memory from becoming feeling, Johanna's act provides
a great release of pure feeling in the film." (Byg S.114) Damit
wendet sich der Film gegen die Unterdrückung von
Gefühlen, denn nur zu oft arbeitet Unterdrückung mit der
Propagierung eines Harmonie-Ideals, welches jede negative
Empfindung als menschen- und gesellschaftsfeindlich abstempelt.
Robert und Schrella unterdrücken ihre Emotionen und bleiben
eingeschlossenen in einer lebensfeindlichen Umwelt und einem
System, dessen wahre gewaltätige Natur sie nicht erkennen
können oder wollen. Die Kontinuität bleibt ungebrochen,
aber die Unterdrückung ist von außen in die Menschen
selbst gewandert. Obwohl im Film der Anschlag den Politiker nicht
tötet, befreit sich die Familie und ist Vorbild für
andere, sowohl vielleicht für die Zuschauer und Journalisten
vor dem Balkon als auch den Zuschauern des Films im Kino.
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