Kontinuität in Nicht Versöhnt.
Referat zu dem Neuen Deutschen Film von Straub/Huillet

von B. Reifschneider, gehalten am 13. Januar 1998

Abstract:
Nicht Versöhnt oder Es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht, ein avantgardistischer Neuer Deutscher Film aus dem Jahr 1965 von dem Regisseuerpaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, wird in dieser Arbeit auf die Darstellung von Kontinuität der NS-Vergangenheit in die frühe Bundesrepublik hin untersucht. Auch dieser Film wird mit der Technik der Filmanalyse betrachtet, mit der andere Autoren diesen Film interpretiert haben. Nicht Versöhnt wird zudem auf der inhaltlichen Ebene genauer betrachtet, es wird aber nicht auf den Aspekt eingegangen, daß es eine Literaturverfilmung ist (dies hatte eine Mitreferentin getan), außerdem gibt es auch keine Inhaltsangabe.

Einführung
    -Entnazifizierung in Westdeutschland
Darstellung der inhaltlichen Ebene
    -Kontinuität der Verantwortlichen
    -Lethargie der Leute mit den 'right ideas'
    -Umgang mit Widerstandskämfern
    -Aufbau-Zerstörung-Wiederaufbau
Darstellung der filmischen Ebene
    -Keine Rückblenden
    -Nüchterne Bilder
    -Filmsprachliche Kontinuität
Lösungsvorschlag im Film
    -Rolle der Johanna
Literaturliste
Wichtige Bemerkungen!
1.0 - Einführung

1.1 - Entnazifizierung in Westdeutschland:
"Eine offene und vorurteilslose Auseinandersetzung mit Ursachen, Ergebnissen und Schuld des Nationalsozialismus stieß dagegen bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung auf vielfältige Widerstände. Die wesentlich von außen an die Deutschen herangetragene Entnazifizierung erwies sich dabei nicht (wie auch die Maßnahmen der 'Reeducation') als geeignetes Mittel, die Masse der Bevölkerung zum aktiven Engagement für eine freiheitlich-demokratische Ordnung zu motivieren." Diese beiden Sätze aus dem Meyer Lexikon von 1990 (unter dem Stichwort "Nationalsozialismus") werfen sofort die Frage auf, wie denn dann die deutsche Bevölkerung für die freiheitlich-demokratische Ordnung motiviert wurde und wie der nationalsozialistische Geist in den deutschen Köpfen beseitigt wurde. 1945 war von den Siegermächten in Jalta und Potsdam beschlossen worden, Maßnahmen zu ergreifen, die Personen mit NS-Vergangenheit von Schlüsselstellungen in der Gesellschaft ausschließen. Mit unterschiedlicher Intensität in den einzelnen Besatzungszonen durchgeführt, wurden Beschuldigte in 5 Kategorien eingeteilt: Hauptschuldiger, Belastete/Aktivisten, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. In der Praxis sah es jedoch so aus, daß sich die Spruchkammern hauptsächlich mit Bagatellfällen beschäftigten und diese meistens zu einem entlastenden Abschluß brachten (u. a. aufgrund sog. 'Persilscheine'). Die wichtigeren Beschuldigten profitierten dagegen von der Verzögerung ihrer Verfahren bis in die Zeit des Kalten Krieges nach 1948, ab 1949 verlor die Entnazifizierung rasch an Bedeutung. Gerade die in Frage kommenden Personen in höheren Stellungen waren wichtig für die Verwaltung und Wirtschaft des westlichen Besatzungsteils Deutschlands und entgingen durch die zeitliche Verzögerung einer konsequenten Verfolgung. Neben diesen Fakten dient diese Anfangsfrage nach einer Kontinuität von der NS-Zeit in die BRD dazu, die Betrachtung des Films Nicht versöhnt von J.-M. Straub und D. Huillet unter diesem Gesichtspunkt zu ermöglichen.

2.0 - Darstellung der inhaltlichen Ebene

2.1 - Kontinuität der Verantwortlichen:
Ohne auf die genauen Umstände einzugehen zeigt der Film ganz ausdrücklich die Kontinuität von Verantwortlichen in der NS-Zeit. Personen, die unter dem NS-Regime Macht über andere hatten, haben in der BRD nichts davon verloren. Aus dem überzeugten Nazi und Sportlehrer Vacano ist der Polizeipräsident geworden. Er, der Übergriffe seiner Schüler auf andere zuließ, bekleidet jetzt einen hohen Posten in der Exekutive unter einer freiheitlich-demokratischen Verfassung. Doch das ist nicht das einzige Beispiel für einen 'Wendehals' im Nachkriegsdeutschland. Nettlinger, ein Schulkamerad von Robert Fähmel und Schrella, war für die Mißhandlungen mitverantwortlich und hatte die drei nach dem mißglückten Attentat auf Vacano denunziert, was die Hinrichtung von Ferdi und die Flucht der beiden anderen zur Folge hatte. Inzwischen ist Nettlinger "Ministerialrat, -direktor oder -dirigent" (Presseheft) geworden und behauptet zwar, Demokrat zu sein, jedoch erscheint diese Überzeugung nur bis zum nächsten Systemwechsel anzuhalten. Er steht für die vielen Mitläufer und Helfer des NS-Systems, die schnell ihren Platz als Verteidiger und Helfer der Demokratie eingenommen haben und dank ihrer Gewissenlosigkeit schnell Karriere machen konnten. Die 'Nettlingers' stellen das Gros der Vertreter des BRD-Systems da und repäsentieren den heuchlerischen Charakter und die Schizophrenie der Bundesrepublik. Selbst überzeugt von ihrer Gesinnung, meinen sie eine moralische Größe zu haben, alle nicht so opportunistischen Menschen im Namen des neuen Systems zu verurteilen, anstatt sich auf eine Konfrontation oder eine Diskussion einzulassen. Die Personen, die erfolglos und wenig konsequent gegen die opppressiven Systeme (Kaiserreich, NS) aufbegehrten, hängen mit ihrer Resignation in der Vergangenheit fest und nehmen gar nicht mehr die Gegenwart als gegenwärtig und formbar wahr. Die Opportunisten haben jeden scheinbaren Bruch verkraftet und leben und bestimmen die Gegenwart und die Realität, Nettlinger bewegt sich im Film frei und uneingeschränkt in der Stadt herum, während die anderen in geschlossenen Räumen mit ihren Erinnerungen festhängen und resigniert haben.

2.2 - Lethargie der Leute mit den 'right ideas':
Diese Lethargie der Leute, die sich nicht jedem System ohne Nachzudenken unterordnen, ist bezeichnend für fast alle anderen Hauptfiguren, besonders für die drei Fähmel-Architeken, die näher betrachtet werden. Jeder der drei männlichen Fähmel-Protagonisten kam als junger Mann in Konflikt mit dem herrschenden oppressiven System. Heinrich teilt die Gedanken seiner Frau, daß der Kaiser ein Narr sei und schuld sei am Tod ihrer Verwandten, doch wagt er es nicht, nach außen hin etwas zu äußern, als Johanna vor das Ehrengericht kommt und fügt sich statt dessen widerstandslos in das System ein, für das er seine Kenntnisse in anderen Aufgaben einsetzen soll ("Kasernenbau. Festungsbau. Lazarette."). Sein Sohn Robert geht da schon ein Stückchen weiter, als Mitglied der "Lämmer-Sekte" ist er mindestens indirekt an dem Mordanschlag auf Vacano beteiligt, das Mißglücken zwingt ihn dazu, seine Familie zu verlassen und mit Schrella nach Holland zu fliehen. Doch Roberts Familie bewirkt eine Amnestie und er kann nach zwei Jahren Exil nach Deutschland zurückkehren und ordnet sich dem NS-Regime unter. Später setzt er im 2. Weltkrieg seine Fähigkeiten ebenfalls ein, um dem Militär bei der Ausführung der Führerbefehle zu helfen. Joseph, der jüngste, hat noch nicht endgültig entschieden, was er will und was er machen möchte, bei ihm ist der Konflikt noch wach und noch nicht entschieden. Die Tatsache, daß sein Vater die Zerstörung des Werks seines Großvaters vornahm, führt dazu, daß er sich gegen den traditionellen Weg in seiner Sippe entscheidet und nicht Architekt wird. Ob er diese Entscheidung revidieren wird und ob er sich trotzdem dem BRD-System unterordnet, wird die Zukunft zeigen. "The dilemma here is the same as in the novel: what role can the younger generation play if its progenitors already stand for both terrorism and respectability? [...] As Joseph gives his inconclusive desciption of his father, the camera tracks backward to keep Joseph and Marianne in a close shot as they walk toward the camera along empty railroad tracks and power lines, a setting that could even suggest death, as Straub noted." (Byg S.106) Schrella ist ebenfalls ein Charakter, den die bestehenden Zustände nicht mehr in eine aktive Opposition treiben. Für etwa 20 Jahre im Exil gelebt, ist auch er von einer Passivität befallen, als er mit der Realität der Bundesrepublik konfrontiert wird. Er ordnet sich zwar nicht unter, aber seine Verweigerungshaltung bewirkt wenig bei der Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft.
Aber was ist die Ursache dafür, daß diese Personen in der Vergangenheit resigniert haben und nichts weiter unternehmen, um auf das Hier und Heute zu wirken? Jean-Marie Straub sagt in einem Interview 1970: "I was pleased to be able to make a film about the middle-class family which acquires political consciousness, although to a limited degree as they are middle-class and hence can only acquire a limited consciousness." (Signs of life) Das beschränkte Bewußtsein für politische und gesellschaftliche Zusammenhänge ist also verantwortlich dafür, daß die Realität zum Teil durchschaut wird, jedoch nicht vollständig erfasst werden kann und das Scheitern die Folge ist. Dieses Schicksal führt dazu, daß sich ihr Widerstand nur unbeholfen äußern kann und nichts bewirkt. Mit der beschränkten Systemanalyse geht die Einsicht einher, selbst so großen Beschränkungen von seitens des Systems zu unterliegen, daß ein Aufbegehren gar nicht in Betracht gezogen wird. Die einzige Möglichkeit, effektiven Widerstand zu leisten, erfährt man im Untertitel des Films, nämlich durch effektive Gegengewalt, jedoch geht die Einsicht der Protagonisten nicht so weit. Auch das Bombenattentat gegen Vacano war wenig geplant und schlecht durchgeführt, die mangelhafte Konstruktion der Bombe führte dazu, daß diese nicht tödlich wirken konnte.
Diese Inkonsequenz und Inkompetenz führt dazu, daß die Betroffenen nicht versöhnt sind mit der Gegenwart. Sie sind "incapable of action, though they have the right ideas: they have been so traumatized that they have become resigned. Not reconciled, perhaps, but resigned" (Signs of life). Sie haben ihre frühere Schwäche nicht überwunden und sind zwar nicht gebrochen, allerdings verzichten sie auf ihre 'political consciousness', und sehen nicht, daß die äußere Befreiung von dem Nationalsozialismus die Kontinuität in den Köpfen nicht gebrochen hat. Nicht versöhnt zeigt die Realität der BRD, "what has become of a country that did not liberate itself from fascism, but where the liberation came from outside or what has become of a country where there has not been a revolution", sagt Straub im Interview 1970 über seinen Film, "[...] and that there is this continuity". (Signs of life)

2.3 - Umgang mit Widerstandskämfern:
Neben vielem anderen ist der Film auch eine kleine Episode über den Umgang mit Widerstandskämpfern im Nachkriegsdeutschland. Außer Robert und Nettlinger kann sich keiner an den heimkehrenden Schrella erinnern. Selbst in der Straße, in der seine Familie gelebt hat, antwortet ein kleines Kind, daß diese niemals hier gelebt hat. Das kleine Mädchen, das sicherlich nur im Nachkriegs-Deutschland aufgewachsen ist, und damit unwissend und unschuldig an der Vergangenheit und der Kontinuität ist, steht für die neue Generation, die nach Joseph (Roberts Sohn) geboren ist und für die keinerlei Reflektion in der BRD-Geschichte möglich ist und die nur das unehrliche Gegenwartsbild kennt. "In the novel, the child suggests that someone else may know the Schrellas, but the film lets the word "never" from the mouth of a small child resonate in all its ironic finality" (Byg S.107) Schrella ist Vergangenheit und paßt nicht in das wiederaufgebaute Deutschland.
Schrella erfährt keine Hilfe, sondern wird statt dessen festgenommen, weil sein Name noch auf alten Fahndungslisten wegen Mordversuch steht. 'Befreit' wird er von seinem früheren Peiniger Nettlinger, der sich überaus freundlich und hilfsbereit zeigt. Vielleicht wittert Nettlinger die Chance, seine Gesinnung unter Beweis zu stellen und damit noch untrennbarer mit dem "freiheitlich-demokratischen" System zu verschmelzen; es ist unglaubwürdig, daß die Hilfsangebote an Schrella so altruistisch sind, wie sie klingen mögen. Vielleicht spürt er, daß ein Anbiedern an einen ehemaligen Widerstandskämpfer jetzt so vorteilhaft sein könnte, wie es früher die hilfspolizeilichem Aktionen für Vacano waren. Schrella ist nur ein Symbol, eine Legitimation für das bestehende System der Bundesrepublik, welches dessen moralische und ethische Überlegenheit gegenüber dem brutalen Wilhelminismus und Nazismus bescheinigt und folglich einen Neuanfang ohne Kontinuität vorgibt. Die wahren Bedürfnisse und Absichten der Opfer und Widerständler des NS-Systems werden verkannt, zugunsten einer Instrumentalisierung, die Frage nach Realität in der zeitgenössischen Gesellschaft und Politik wird peinlich vermieden.

2.4 - Aufbau-Zerstörung-Wiederaufbau:
Einer der Handlungsstränge, die sich durch den Film ziehen, besteht darin, daß die drei männlichen Protagonisten der Fähmel-Familie Architeken sind. In dieser Rolle gewinnt der Großvater Heinrich die Ausschreibung für den Entwurf einer Benediktiner-Abtei, die unter dem Namen Sankt Anton im Kissatal errichtet werden soll. Sein Sohn Robert zerstört als Sprengmeister der Wehrmacht diese Arbeit, um einer deutschen Armee ihr Schußfeld auf eine amerikanische Armee zu geben. Freilich mag auch dieser Akt nicht die Geschichte ändern, so daß der Enkel Joseph als angehender Architekt 1956 an dem Wiederaufbau eingesetzt werden soll. Damit macht Straub "die persönliche Geschichte dreier Generationen der Familie Fähmel zur Parabel für den Verlauf der deutschen Geschichte überhaupt" (Wagner S.47). Es entsteht ein kontinuierlicher Zyklus von Schaffen und Zerstören, der nicht in einem Neuanfang endet, sondern in eine Wiederholung der Geschichte mündet. So werden unterschwellig die Strukturen der vergangenen Systeme in das neue eingearbeitet, der Bruch fehlt völlig. Geschichte wird zu einem immer wiederkehrenden Zustand, trotz der Zerstörung bleibt das Alte erhalten und ist sowohl Geschichte wie auch Gegenwart. Der Enkel Joseph, der als einziger "ein Bewußtsein für die starren Verhältnisse zu entwickeln scheint" (Wagner S.48), beschließt, nachdem er die Rolle seines Vaters bei der Vernichtung von Sankt Anton erfahren hat, kein Architekt zu werden und das Angebot der Mitarbeit am Wiederaufbau abzulehnen. Er betrachtet zusammen mit seiner Verlobten, zur selben Zeit wie seine Großmutter auf den Politiker schießt, römische Fundamente, die unter den Ruinen der Abtei entdeckt worden sind. Es gibt also eine Geschichte vor der Geschichte. Der Zyklus der Kontinuität besteht also nicht seit Anfang der Geschichte, sondern diese kann sich ändern und in neue Bahnen gelenkt werden, wenn das Bestehende (das Römische Reich, die Realität der BRD) mit Gewalt beseitigt wird. Diese Erkenntnis mögen Johanna und Joseph in diesem Moment erfahren, sie verbindet sie beide über die örtliche Trennung der beiden hinweg, schließlich geht es um Josephs Zukunft, die entweder wieder das Alte sein kann oder neu geschaffen wird.

3.0 - Darstellung der filmischen Ebene

3.1 - Keine Rückblenden:
Straub und Huillet verwenden keine Rückblenden in ihrem Film, statt dessen wird immer, wenn eine Sequenz in der Vergangenheit spielt, sie gezeigt, wie sie sich zugetragen hat. Derselbe Stil wie bei den narrativen Szenen, die in der BRD-Gegenwart spielen, kommt zum Einsatz. Dadurch, daß keine Rückblenden vorkommen, besteht die Vergangenhiet mindestens gleichberechtigt neben der Gegenwart, sie ist nicht vergangene Realität, sondern alles ist aktuelle Realität. "Nicht versöhnt [...] thematisiert [...] die Kontinuität von Unterdrückungs- und Gewaltstrukturen in der deutschen (später bundesdeutschen) Geschichte: Strukturen, die bereits angelegt sind in der militaristisch geprägten wilhelminischen Gesellschaft, die gestärkt werden durch die ziellose Weimarer Republik" (Wagner S.48). Kontinuität erwächst aus den Bildern der Vergangenheit und Gegenwart, da keine auffälligen Einbrüche in der Erzählweise auftreten. Die Strukturen der Unterdrückung, die Orte, die Personen und die Geschehnisse, sind nicht vergessen oder weit weg und auch nicht Biographie der Protagonisten, sie sind ein Teil des Gewebes, das die zeitgenössische Wirklichkeit ist. Für Byg ist dieses Filmmerkmal 'Keine-Rückblenden' etwas anderes. Die Episoden, die in der Kaiserzeit, im Nationalsozialismus usw. spielen, sind die abstrakten Erinnerungen an die Ereignisse damals. So läßt sich erklären, warum die Personen in diesen Einstellungen immer so emotionslos und teilnahmslos wirken, z. B. Robert beim Schlagballspiel. Denn die Erinnerungen von Robert bestehen nur aus Linien und Formeln, nicht Gefühlen. Das sagt der Film jedoch nicht, sondern er zeigt die Linien und Bilder, die Roberts Erinnerung sind (Byg S.103: "Instead of being told that Robert's memory consists of lines and formulas, not feelings, the audience only sees the lines and images that Robert remembers.").
Dieses Konzept ist nicht weniger ergiebig unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität, es zeigt stärker die individuelle psychologische Verfassung des einzelnen, die jedoch für die Geisteshaltung von sehr vielen Menschen steht, die im Großen und Ganzen so mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind, wie es Robert getan hat. Für ihn ist die Vergangenheit viel wichtiger als das Heutige, im Film sieht Byg das in dem Moment, als die Erzählung mit der Schlagballszene beginnt, während davor nur ganz kurz Robert mit Hugo im Billiardraum gezeigt werden. ("The superiority of the past over the present is established by the fact that the narrative begins here, in the past, with the voice-over of Robert", Byg S.103) Durch die Übermacht des Vergangenen ist es Robert nicht möglich, seine Möglichkeiten in der Gegenwart zu sehen. ("By eliminating the authorial commentary and restricting the length of the film shots in accordance with the laconic speech of the novel, the film makes it shockingly clear, that the past is tremendously more important for Robert than the present", Byg S.103)
Kontinuität kann man demnach dadurch erkennen, wer in der Vergangenheit 'lebt' und wer in der Gegenwart. Personen, die klar als in der Jetzt-Zeit verankert sind, sind Hugo (der Page) und vor allem Nettlinger.
Byg zeigt an dem Beispiel, wie Hugo einen Cognac holt, wie er im Kontrast zu Robert in das Hier und Jetzt paßt: "There is a clear sense of location, visual narrative progression, no voice-over. With Hugo we are in the present." Diesen Eindruck vergleicht er mit der Ankunft von Nettlinger im Hotel: "Here we have the same clues for assuming present tense and continuous time, and even the setting of the hotel can be easily assumed based on this continuity and the rhythmic link to Hugo's scene" (Byg S.104).
Der Unterdrücker von früher ist heute immer noch Teil der Gegenwart, er und andere leben und agieren und gestalten, während die Leute mit den 'right ideas' resigniert haben.

3.2 - Nüchterne Bilder:
Ein weiteres Merkmal, das bei Nicht Versöhnt auffällt, sind die nüchternen Bilder, die sehr schnörkellos und spartanisch wirken. Einerseits hat dies sicher den Grund, daß der Film mit sehr bescheidenen finanziellen Mitteln gedreht wurde (117.000 DM) und man sich daher keine aufwendigen und komplizierten Kulissen leisten konnte, andererseits steht hinter dieser Inszenierung auch eine Absicht. Straub sagt über seinen Film: "genauso wie er ist, würde mein Film auch sein, wenn ich sieben Millionen zur Verfügung gehabt hätte." (Pressehefte S.1) Trotzdem wird dieses Thema meistens mit pauschalen und wenig differenzierten Beobachtungen abgehandelt: "Jene Starre und Elegie, die Nicht versöhnt als spröder Redefilm und durch die sparsame visuelle Inszenierung vermittelt, steht als filmsprachliche Chiffre für das alte, starre System, für die festgefahrenen politischen und gesellschaftlichen Bahnen, in denen sich die Menschen in der Gegenwart, der Bundesrepublik Anfang der 60er Jahre bewegen." (Wagner S.54)
Dabei bleibt unberücksichtigt, daß die Bilder voll sind mit Symbolen wie Türen, Fenster, diagonalen Linien, Räumen und Flächen, diese Zeichensprache muß viel genauer analysiert werden, wie Byg es zum Beipiel tut (vgl Byg S.104f).
Straubs frühere Filme waren Dokumentarfilme. Nicht versöhnt hat einen stark dokumentarischen Stil, der den Anspruch zu haben scheint, einfach die Wirklichkeit unkommentiert aufzuzeichnen. Doch gerade dadurch, daß lange, undynamische Einstellungen verwendet werden, weckt der Film Unbehagen. Nichts lenkt von den ungeheuerlichen Tatsachen und Handlungen ab. Henry Chapier wird in dem Presseheft zu dem Film zitiert: "Es genügt zu wissen, daß es sich um eine Art Psycho-Analyse des Nachkriegsdeutschlands, das sich aus schlechtem Gewissen und guten Absichten zusammensetzt, handelt, und das jämmerlich im Schlamm seiner Schizophrenie herumpaddelt." (Presseheft) Und das gelingt Straubt meisterhaft mit dieser Form der Inszenierung. Die eindringliche Ambivalenz zwischen den Aktionen und Tatsachen und dem gezeigten Bild und Ton läßt die gezeigte Kontinuität als alltägliche Realität und noch unfaßbarer dastehen, so daß der Zuschauer "(zum erstenmal im Kino) unmittelbar das Wesen einer Situation erfasst. Weil alles Unwesentliches von der Handlung abgefallen ist, weil er sie sozusagen nackt sieht." (R. Thome im Presseheft) Und nicht nur die Situation wird erkannt, sondern die gesamte Realität von Gleichgültigkeit und Heuchelei, Unterordnen und Selbstbewußtsein.
"Die Kamera wird benutzt wie ein eiskaltes Instrument, das die Nervenpunkte von Wirklichkeiten bloßzulegen hat", schreibt "Die Andere Zeitung" am 21.4.1966. Eine gewohntere Inszenierung und Darstellungsweise würde bei diesem Instrument nur stören und es stumpf machen.
Das Konzept des Originaltons verfolgt die gleiche Absicht. Die ansonsten übliche Nachvertonung wird durch Originalaufnahmen der Schauspieler ersetzt. Dadurch fällt es dem deutschen Zuschauer bisweilen schwer, den Dialogen zu folgen, ein Problem, welches mit Untertiteln versehene Kopien nicht haben und daher im Ausland auf keine derartigen Schwierigkeiten stoßen. Im Gegenteil, so behält der Film den natürlichen Rhythmus der Sprache bei, die einzelnen Worte treten zurück zugunsten der Sprechmelodie, ein Umstand den nicht-deutschsprachige Zuschauer positiv, deutsche aber entsetzt und mit Verständnisproblemen aufnehmen. Lerchenthal beschreibt die Sprechweise der Darsteller: "Ihre eigenartig wirkende Sprechweise - sie scheint uns eintönig, fast fremd - entspricht der Sprache, wie sie um uns, in unserem Alltag gesprochen wird, und nicht auf der Bühne und Film." (Die Andere Zeitung) Wieder ein weiteres Moment, mit dem Straub und Huilett Dokumentareigenschaft beschwören. Der Zuschauer hat Probleme, den Dialog zu verstehen, aber damit will ihn Straub/Huilett nicht in Versuchung führen, zu denken, wenn man diesen verstünde, hätte man schon den Film verstanden. Statt dessen ermöglicht der Gesamteindruck von Bild, Ton und Handlung erst das Verstehen, daß die ungebrochene Kontinuität der NS-Ideologie und deren Vertreter, wie die nüchternen Bilder und die alltägliche Sprache, eine schlichte Tatsache ist.

3.3 - Filmsprachliche Kontinuität:
Das dokumentarische Element des Films beschreibt auch einfach die Umwelt, in der die Handlung spielt. Bis auf wenige Ausnahmen (die Liftfaßsäule etc.), "the look of the film remains contemporary: telephones, hotels, billiard tables, and teacups have not changed; a Mercedes is still a Mercedes. And one must ask what it takes to preseve the smooth appearance of such continuity." (Byg S.116) Denn während Menschen im Verlauf der Geschichte sterben und politische Systeme wechseln, bleiben die großen Konzerne unbeschädigt und gehen aus dem Faschismus gestärkt hevor. Die sanfte Kontinuiät, das sogenannte Wirtschaftswunder, brachte der BRD Wohlstand, die Menschen hatten daher kein Interesse, die Verbindung zwischen ihrem System und dem Nationalsozialismus freizulegen. Andere Filme legen Wert darauf, Spannung zu erzeugen, wenn es um die Versuche von Personen mit NS-Vergangenheit geht (und dazu zählt Robert), diese zu verdecken. Nicht Versöhnt tut dies nicht, "there is now need to build up the suspense of Robert's obessive routine to hide from the past. The film merely reminds the viewer that any contemporary could have a past such as Nettlinger's, Robert's, or Erika Progulske's." (Byg S.116) Der Film verdeutlicht die Alltäglichkeit der Kontinuität, die in jedem Zeitgenossen in den Sechzigern existieren kann. Dieselbe Offenheit legt der General in Machorka Muff an den Tag, der ebenfalls seine Taten für das Nazi-Militär nicht verschweigt. Doch trotzdem scheinen die Protagonisten in beiden Filmen mit ihrer Vergangenheit starke unbewußte Probleme zu haben. "In beiden Filmen bestellen die Menschen unentwegt zu essen und zu trinken und reden davon. Man hat den Eindruck, als wollten sie damit eine Angst beschwören" (Süddeutsche Zeitung, 26.8.1971) Diese unbestimmbare Angst, die zu einer Lebensbeeinträchtigung oder -bedrohung führen könnte, kann nicht benannt werden. Aber dadurch, daß die Protagonisten einen großen Teil ihrer dargestellten Handlung beim Essen und Trinken verbringen, zeigt, daß dieser unbewußte Druck auf ihnen stark genug ist, um ihre willens- und verstandesgemäße Kontrolle zu beeinflußen. Und deshalb mißlingt es ihnen, die Kontinuität von gesellschaftlichen Strukturen zu erkennen, in denen sie leben. Somit ist keiner von ihnen wirklich frei, sondern ihre Handlungen und Aktionen vollziehen sich immer in diesem System von Strukturen, keiner ist wirklich befähigt, daraus auszubrechen, sie haben noch nicht einmal die Wahl, wie sie in das System passen, ob als 'das System' und Macher (wie Nettlinger) oder untergeordnet und resigniert (wie Robert), aber in beiden Fällen sind sie eingeschlossen und gefangen in Konventionen, die sie nicht bestimmt haben.

  4.0 - Lösungsvorschlag im Film

4.1 - Rolle der Johanna:
Die einzige Person, die aus dem Schema, in dem die anderen handeln, herausfällt, ist Johanna, die Frau von Heinrich Fähmel. Im Film erzählt sie von der Vergangenheit ohne voice-over, sie erzählt in ihrer Verwirrung Erlebnisse und Entscheidungen, die in der Vergangenheit stattfanden, jedoch lebt sie in diesem Moment wirklich im Gestern, und nimmt diese Zeit als Realität wahr. Das ist es, was sie den anderen Charakteren überlegen macht, "old Johanna is slightly schizophrenic, locked into the past; but she is nevertheless the most conscious of them all, perhaps because she is the most aware that past and present are one." (Signs of life) Nachdem sie durch den Spiegel (Einstellung 137, vgl. Byg S.110) wieder ins Leben zurückgekehrt ist, ist sie in ihrer Bewegung auch nicht mehr wie die anderen Protagonisten eingeschränkt. In langen Einstellungen sieht man, wie sie ihren Befreiungsschlag vorbereitet, während die anderen "associated with closed doors and restricted motion" (Byg S.109) sind. "Stasis becomes motion, darkness becomes light" (Byg S.114), ihr Schuß auf den Minister vom Balkon aus ist der eindeutige Höhepunkt des Films. Dadurch, daß sie die strukturelle und personelle Kontinuität der Gewalt in der Realität erkennt, sieht sie auch die einzige Lösungsmöglichkeit. Wie schon bei ihrem Kommentar zum Bombenanschlag im Jahr 1935, wie sie es richtig gemacht hätte, zeigt ihren Lösungsvorschlag. Der Untertitel von Nicht Versöhnt, "es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht" soll das Mittel sein, mit der man die Wirklichkeit ändern kann. Johannnas individueller Widerstand ist konsequenter als die unbeholfenen Versuche der anderen, Einfluß auf die Realität zu nehmen. Aber der Film macht auch klar, daß diese Konsequenz einen Entwicklungsweg beschritten hat. Anfang des 1. Weltkrieges hatte Johanna nur verbale Kritik an den Entscheidungen des Kaisers geäußert, mit dem Ergebnis, daß sie für verrückt erklärt wurde. Ihr Mann Heinrich war zwar ihrer Meinung, jedoch wagte er es damals nicht, ihr beizustehen. Im Dritten Reich muß sie zusehen, wie die Lämmersekte (und ihr Sohn Robert) mit ihrem Bombenanschlag gegen einen Repräsentanten des NS-Regimes aufbegehrt, aber scheitert. Aber sie resigniert nicht, nachdem sie erkennt, daß sich bis in die Bundesrepublik eine Kontinuität der Gewalt und der Unterdrückung zieht, führt sie ihr Attentat aus. Und diesmal bekommt sie Rat und Unterstützung von Heinrich. Für einen Moment bricht die Familie aus ihrer Resignation aus und Bewegung passiert: "The camera moves, Heinrich moves, the decision is made, the action occurs all in real time and space." (Byg S.114) Nicht Versöhnt suggeriert noch ein anderes Ziel als den Politiker M.: während man Johanna auf dem Balkon stehen sieht, wie sie ihren Arm ausstreckt und schießt, sieht man nicht ihr Ziel. Man hört den Schuß, aber im Bild befindet sich die Abtei, die für drei Generationen Fähmels und ihr Unterordnen steht. Johannas Ausbruch ist auch ein emotionaler Ausbruch. In dem Robert "has [...] to keep memory from becoming feeling, Johanna's act provides a great release of pure feeling in the film." (Byg S.114) Damit wendet sich der Film gegen die Unterdrückung von Gefühlen, denn nur zu oft arbeitet Unterdrückung mit der Propagierung eines Harmonie-Ideals, welches jede negative Empfindung als menschen- und gesellschaftsfeindlich abstempelt. Robert und Schrella unterdrücken ihre Emotionen und bleiben eingeschlossenen in einer lebensfeindlichen Umwelt und einem System, dessen wahre gewaltätige Natur sie nicht erkennen können oder wollen. Die Kontinuität bleibt ungebrochen, aber die Unterdrückung ist von außen in die Menschen selbst gewandert. Obwohl im Film der Anschlag den Politiker nicht tötet, befreit sich die Familie und ist Vorbild für andere, sowohl vielleicht für die Zuschauer und Journalisten vor dem Balkon als auch den Zuschauern des Films im Kino.

D. Huillet und J.-M. Straub
Szene aus Nicht Versöhnt
Johanna vor dem Spiegel
Bildkomposition bei Johanna
Hugo und Robert
Schrella und Robert 1935
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der JWG Universität Frankfurt
Internet Movie Database zu Nicht versöhnt oder es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht (englisch)
Intense Materialism: Too Soon, Too Late. Über Straub/Huillets Zu Früh - Zu Spät (englisch)
Kurzinformationen über den Neuen Deutschen Film und das Oberhausener Manifest von 1962
Claudia Dillmann, Rudolf Worschech: Neuer Deutscher Film
Ein paar Anregungen zur Filmanalyse
Lexikon der Regisseure: Straub/Huillet
Literaturliste

Bücher:
MEYERS LEXIKONREDAKTION: "Meyers Grosses Taschen Lexikon in 24 Bänden, 3. aktualisierte Auflage"; B.I. Taschenbuchverlag; Mannheim/Wien/Zürich 1990
BYG, Barton: "Landscapes Of Resistance"; University of California Press; Berkley/Los Angeles/London 1995
WAGNER, Annette: "Geschichts-Bilder. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im neuem deutschen Spielfilm nach Oberhausen. Drei Filmanalysen"; Magister-Arbeit Tübingen 1990

Artikel:
Die Andere Zeitung; Hamburg; 21.4.1966; Jürgen S. Lerchenthal
Süddeutsche Zeitung; München; 26.8.1971

Sonstiges:
Neue Filmkunst Walter Kirchner Pressehefte Nicht Versöhnt
Signs of life. The New German Cinema 1962-1969. Goethe-Institut London 15. April - 22. Mai 1991

Bemerkungen:
Dieses Referat entstand im Rahmen des Seminars "Neuer Deutscher Film" im Wintersemester 1997/98. Diese Veranstaltung fand am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Geleitet wurde sie von Prof. Dr. Heide Schlüpmann, die die vorliegende Arbeit mit "gut" (2) benotete.
B. Reifschneider schloß sein Studium im Mai 2000 mit dem Magister Artium in Theater-, Film- & Medienwissenschaft ab und ist heute Doktorand am Fachbereich Neuere Philologien.
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